Hamburg. An der Hamburger Staatsoper hatte Jan Bosses Inszenierung von Mozarts „Don Giovanni“ Premiere – und da lag einiges im Argen.

Nach „Là ci darem la mano“, einem der größten Mozart-Publikumslieblinge überhaupt, keinen Szenenapplaus für das Herz-Schmerz-Duett zu bekommen – das muss man erstmal schaffen. Bei der Ouvertüre, sofort nach den trocken donnernden ersten Akkorden in eine Pauschalphrasierung abzusacken und dort so schnell nicht wieder herauszufinden, wie es Adam Fischer und den Philharmonikern widerfuhr, auch das muss man erstmal schaffen. Man sollte es aber tunlichst nicht. Doch Jan Bosses Mozart-Inszenierung, mit der die Hamburger Staatsoper ihren Da-Ponte-Zyklus jetzt abschließt, lag einiges im Argen, insbesondere in der ersten Hälfte.

Aus der Katastrophe, die Doris Dörrie in Simone Youngs Amtszeit 2011 mit ihrem „Don Giovanni“-Vorgängermodell angerichtet hatte, hat der am Sprechtheater sozialisierte Bosse für sein Konzept nicht gelernt, dass es eher keine gute Idee ist, schon wieder eine stumme Tod-Figur als Plot-Glutamat in die Geschichte hineinzurühren. Damals war es, warum auch immer, ein japanischer Butoh-Tänzer, nun die Schauspielerin Anne Müller, androgyn und bleich, enorm gelenkig, mal als Amor das sehnige Bodydouble von Don Giovannis libidinösen Absichten, mal Beobachterin vom ständigen Werwillwen und am Ende wie Gollum monströs geifernd. Aber immer unnotwendig, weil Mozarts späte Opern bislang nicht dafür bekannt sind, ohne solche dramaturgischen Stützräder planlos gegen die Wand zu fahren.

Im zweiten Akt geschah ein nicht kleines Wunder

Apropos Wand: Davon gab es überreichlich zu besichtigen. Bosses Bühnenbildner Stéphane Laimé hatte die Szene vollgestellt mit langsam rotierenden Palazzo-Außenmauern, die ihre besten Zeiten hinter sich hatten. Vielleicht ein Symbol dafür, dass Giovannis Frauenmissbraucher-Lebenswandel ebenso entsorgt gehört wie diese fast einstürzenden Altbauten. Draußen vor der Tür hatten unterdessen die Prolls das Sagen. Ex-Bauer Masetto und seine Homies wirkten wie aus einer Vorabend-Krimi-Serie entlaufen. Giovanni (André Schuen) hatte die Garderobe des Edelmanns gegen ein Stecher-Outfit getauscht, um bei der Trophäenjagd nicht aufzufallen, sein Diener Leporello (Kyle Ketelsen) trug einen Karussellbremser-Jogginganzug. Und beide, stimmlich extrem nah beieinander, waren zunächst kriminelle Brüder im Geiste: Damit Giovanni den Komtur mit dem Messer meucheln konnte, hielt Leporello ihn fest. Und als ob Bosse den ausdrucksstarken Arien und Ensembles von Mozart partout nicht glauben wollte, castorfte er per Live-Video immer wieder Großaufnahmen groß und asynchron ins Szenenbild.

Schuen und Ketelsen ergänzen und komplettieren sich in dieser Gemengelage von Anfang an fein, sie bestachen durch aufeinander abgestimmte Klarheit und Präsenz. Sie zu hören, war immer ein Vergnügen; mitzuerleben, was sonst noch passierte? Sehr bedingt. Denn auf dem bisschen Platz, der ihm noch blieb, musste sich das gesamte singende Personal im ersten Akt mit der Enge arrangieren. Doch auch diesen Vorteil, alle Stimmen direkt vor dem hochgefahrenen Orchestergraben zu haben, ließ Fischer hochgradig ungenutzt. Unschön oft war der Überdruck zu spüren, den Fischer ausübte, um eine klare, wirklich gesanglich gedachte Linie zu finden.

Doch dann, ach jeh – die Höllenfahrt des Trieb-Täters

Im zweiten Akt allerdings geschah ein nicht kleines Wunder: Mozart wirkte, endlich. Auch und vor allem Adam Fischer wirkte wie ausgetauscht. Wo es zuvor oft arg rumpelte und wackelte, weil die Stimmen dem Orchester hinterherhetzen mussten, kamen beide in Einklang. Tempo-Beziehungen funktionierten, die Musik fand zu sich. Aus den flachen Typen, mit denen Bosse seinen ersten Akt stumpf zumöbliert hatte (und dafür am Ende wütend ausgebuht wurde), wurden Charaktere, mit Tiefe, Seele, Größe.

Die Bühne öffnete sich mehr und mehr, ein Nachtstück entdeckte die Faszination der Zwischentöne und Schattierungen; der Zuschauer konnte hinter die Fassaden blicken, und nicht nur die der Gemäuer. Mit jeder Arie wurde klarer, wie viel bei der Jagd nach Liebe auf dem Spiel stand. Aus Donna Anna, zunächst eine von einigen, wurde ein Individuum, Julia Kleiter sang sich frei. Die Zerlina von Anna Lucia Richter war ebenfalls nicht mehr nur die nächstbeste Blondine. Federica Lombardi entlastete ihre Donna Elvira von der anfänglichen Schärfe, entkantete und formte ihre Rolle. Dovlet Nurgeldiyev veredelte den schlimm braven Don Ottavio vom farblosen Tenor-Lappen zum edlen Lyriker.

Doch dann, ach jeh, das Finale, die Höllenfahrt des Trieb-Täters (das „lieto fine“-Ensemble hatte Bosse gestrichen). Zu wenig Abgrund, zu viel Geisterbahn, zu wenig existenzieller Orchester-Horror, weil es eben nur halbfinster krachte. Der Komtur (Alexander Tsymbalyuk) als „The Walking Dead“-Gestalt im Nachthemd, dazu Kunstnebel und Bühnenzauber, als ob der „Giovanni“-Mozart lediglich ein unbeholfener Musiktheater-Anfänger wäre, den man selbst in solchen Momenten noch überzeichnen müsste. Muss man nicht.

Weitere Termine: 23. / 26. / 20.10, 3. / 6. / 9.11., jeweils 19 Uhr. Karten (6 bis 109 Euro) unter T. 356868. www.staatsoper-hamburg.de