Hamburg. Das Drama am Jungen Schauspielhaus konnte mit Textmassen, dem F-Wort und Rollentausch nicht recht überzeugen.

Was ist eigentlich „normal“? Dieser Frage geht der Schweizer Dramatiker Lukas Bärfuss in seinem 2003 uraufgeführten Stück „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ nach. Im Mittelpunkt seines Dramas steht das Mädchen Dora (Marie Scharf). Sie leidet an einer psychischen Erkrankung und wird mit Medikamenten ruhig gestellt. Als die Eltern und ihr Arzt die Pillen absetzen, entdeckt Dora ihre Sexualität und lebt sie geradezu nymphoman aus. Dabei gerät sie an einen Mann (Gabriel Kähler), der ihre Gier und ihre Naivität schamlos ausnutzt.

Alexander Riemenschneider hat das Stück jetzt am Jungen Schauspielhaus inszeniert und versucht, die Frage nach der Normalität mit zwei Ideen aufzuwerfen: Da ist zum einen die Bühne von David Hohmann. Ein schmuckloser Steg, der den Zuschauerraum der Großen Probebühne in zwei Hälften teilt. Aus den einander gegenüberliegenden Sitzreihen heraus agieren die Figuren. Aha! Wir, die Zuschauer, werden also gespiegelt. Was hier gespielt wird, geht uns an.

Es reicht nicht, Männer in Frauenkleider zu stecken

Zum anderen versucht es Riemenschneider mit einer eigenwilligen Besetzung der Figuren: Doras Mutter wird von Hermann Book gespielt, ihr Vater von Christine Ochsenhofer. Die alte Mutter des Chefs übernimmt die junge Schauspielerin Genet Zegay und für die Rollen des Arztes und des Gemüsehändlers hat der Regisseur mit Friederike Jaglitz und Michael Schumacher zwei Mitglieder der inklusiven Theatergruppe „Meine Damen und Herren“ in sein Ensemble geholt. Beides sind sicher gute Ideen, nur leider gehen sie nicht auf. Es reicht nicht, einen Schauspieler wie Book in Frauen- und Ochsenhofer in Männerkleider zu stecken, um Normalität zu hinterfragen, zumal das deren einzige Verwandlung ist.

Problematisch ist auch die Besetzung der anderen Figuren. Friederike Jaglitz und Michael Schumacher verdienen unbedingt Respekt für die großen Textmengen, die sie zu bewältigen haben. Nur was nützt es, wenn diese Berge vor allem abgearbeitet werden? Hier hätte die Dramaturgie kürzen müssen, um die langen Passagen für die beiden Schauspieler griffiger zu machen und gleichzeitig die Bösartigkeit des Textes zu schärfen.

Überzeugen kann nur Hauptdarstellerin Marie Scharf

Nicht gegen den Strich besetzt ist Gabriel Kähler als „feiner Herr“. Doch seine Figur bleibt unklar: Ist er ein Sadist, der Dora quält? Oder ein triebgesteuerter Mann, der eine willige Frau gefunden hat? Fühlt er doch Zuneigung zu ihr, wenn er sie „Engel“ nennt? Überzeugen kann einzig Marie Scharf, die Dora als eine unschuldige junge Frau spielt, der die Tragweite ihres Handelns nicht bewusst ist und die mit ihrem übersteigerten Sexualtrieb aneckt, weil sie diese offen auslebt.

„Ficken“ ist das Wort, das sie am häufigsten benutzt. Die anderen Figuren leben ihre Sexualität im Heimlichen aus. Aber als Neurotiker, also Menschen mit psychischer Störung, gehen sie nicht durch. Ob am Ende der knapp zweistündigen Vorstellung wirklich jemand das Thema „Normalität“ problematisiert, bleibt die Frage. Die Generation 15+, an die sich die Inszenierung richtet, könnte damit Schwierigkeiten haben.

„Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ nächste Aufführungen 22. bis 24.10., 19.00, Junges Schauspielhaus (U/S Hauptbahnhof), Kirchenallee 43, Eingang über Malersaal, Karten 14,-/erm. 8,-; www.schauspielhaus.de