Hamburg. Der Dirigent kombinierte Haydns Nummer 104 mit Bruckners Sechster feinsinnig. Ein Bekenntnis zur epischen Geduld.

Auf den ersten Blick hat eine späte Haydn-Sinfonie so rein gar nichts mit dem alltäglichen Binden eines Schnürsenkels zu tun. Doch das täuscht, und zwar gewaltig. Den Senkel bindet man blind, wenn man es gelernt hat und kann, ohne groß darüber nachzudenken, welche Öse wo zu sein hat, jeder Handgriff sitzt, ganz einfach so. Kinderspiel, kinderleicht. Fertig. Wo war gleich das Problem?

Eine Haydn-Sinfonie sollte genauso mühelos und selbstverständlich von der Hand gehen, doch nur sehr wenigen Dirigenten ist diese unaufdringliche Anmut vergönnt. Wenn dann aber ein so meisterhafter Strukturenversteher wie Herbert Blomstedt bei seinem Abo-Programm mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester Haydns Nummer 104 mit Bruckners Sechster kombiniert, ist man versucht zu denken, dass die Sensationen des Abends vor allem im ungleich mächtigeren, lauteren, erschütternderen Bruckner zu bestaunen sein werden. Haydn wäre eher die nette Vorspeise. Und: täuscht sich schon wieder.

Blomstedt verzaubert Elbphilharmonie-Besucher mit Haydn

Was Blomstedt am Donnerstag aus Haydns letzter Londoner Sinfonie nicht nur herausholte, sondern penibel herauszauberte, ließ schnell und komplett das Vorurteil vergessen, Haydns sei nur theoretisch ein Genie in der Differenzierung von Ausdruck und beim Entwickeln musikalischer Ideen. So feinsinnig und geschmackvoll, wie Blomstedt diese vier Sätze zu einer Aussage bündelte und durchleuchte, war es die reine, klare Freude.

Das einleitende erste Bläser/Pauken-Motiv wirkte, auf sehr dezente Art, wie eine klassische Vorahnung jener Wucht, mit denen 120 Jahre später der Spätromantiker Bruckner so gern seine Sinfonie-Kolosse loslegen ließ. Und Blomstedt war der Gesprächsmoderator, der mit kleinen Gesten dafür sorgte, dass beim Dialog der Instrumentengruppen die Themenbalance hielt, dass sich nirgendwo Routine oder gar Langeweile breit machte. Dass überall klar durchhörbar war, wie seelenverwandt Haydn und Mozart waren.

Das könnte Sie auch interessieren:

NDR Elbphilharmonie Orchester war klein besetzt

Die passend kleine Besetzung des NDR-Orchesters fügte sich höchsterfreut in dieses angenehme Schicksal und lieferte einen Haydn ab, der atmete und mitdachte, der empathisch war und aufmerksam. Die Pointen im Menuett, die amüsanten gegen die Erwartung gesetzten Akzente im dritten Satz und das flott abbindende Finale – all das brachte der 92 Jahre alte Blomstedt als das Meisterwerk, das es ist, mit jugendlichem Enthusiasmus zum Funkeln.

Diesen Drive hielt er auch in Bruckners Sechster durch. Verglichen mit der monumental weihevollen Statik, die diese Musik schnell zum Monument erstarren lassen kann, legte Blomstedt größten Wert auf einen Grundpuls, der die Themenriesen in innerer Bewegung hielt. Blomstedt bremst nicht für die vielen schönen Stellen, er nimmt sie als Teil eines Ganzen.

Bruckner von Blomstedt: Bekenntnis zur epischen Geduld

Auch hier lief alles mit erstaunlicher Natürlichkeit ab, und es war zu verschmerzen, dass es dem Blech stellenweise an einheitlichem Strahlen fehlte. Denn Bruckner von und mit Blomstedt ist auch ein Bekenntnis zur epischen Geduld, die man im Umgang mit epischer Kunst haben muss.

Weitere Termine: 18. 10., 20 Uhr / 20.10., 18 Uhr, Elbphilharmonie Großer Saal (das Konzert am Freitag wird live auf NDR Kultur übertragen). 19.10., 20 Uhr, Kiel, Schloss. Haydn Sinfonie D-Dur Hob. I/104 „Londoner Sinfonie“, Bruckner: Sinfonie Nr. 6. NDR Elbphilharmonie Orchester. Evtl. Restkarten.

Ein Gespräch mit Herbert Blomstedt ist im Abendblatt-Podcast „Erstklassisch mit Mischke“ abrufbar unter abendblatt.de/podcast.