Hamburg. Nach Kammermusik zum Aufwärmen in der Laeiszhalle kam die Star-Pianistin anschließend für ein Orchesterkonzert in den Großen Saal.

Gerade hat sie noch in der Laeiszhalle beim Kammerkonzert mitgewirkt – auf dem Programm standen Werke von Prokofjew und Tschaikowsky – da betritt sie mit leichter, die Spannung noch steigernder Verzögerung die Bühne im Großen Saal der Elbphilharmonie. Sie, Martha Argerich, wandelnde Pianistinnenlegende. Um sie dreht sich in diesen Tagen das nach ihr benannte Festival der Symphoniker Hamburg. Da muss man schon mal das Kunststück vollbringen, an zwei Orten zugleich zu sein, oder zumindest beinahe. Martha Argerich ist jedenfalls die erste Künstlerin, die am selben Abend sowohl ein Konzert in der Laeiszhalle als auch in der Elbphilharmonie gegeben hat.

Von Eile, Unruhe oder Nervosität ist ihr nichts anzumerken. Eher wirkt sie abwesend, in sich versunken, wie sie da ohne viel Aufhebens ihre paar Meter bis zum Klavierhocker zurücklegt. Schraubt ein wenig, bis die Höhe passt, legt den Kopf in den Nacken hustet dann einmal kräftig und erntet dafür Gelächter. Mit Husten kennt man sich aus in der Elbphilharmonie.

Auch hier spielt Argerich Prokofjew, nämlich dessen 3. Klavierkonzert. Entstanden 1921, ist das Werk zwar noch nicht der späteren Periode zuzurechnen, in der der Komponist sozialistisch aufrechte Arbeiter- und Bauernmusik schrieb. Aber es ist zeittypisch geprägt von geradezu maschinell wirkenden, insistierenden Rhythmen. Mit ihnen treibt das Orchestertutti den Solisten beständig vor sich her.

Beim Abgehen legt Argerich eine Hand auf den Flügel

Jedenfalls wenn er sich treiben lässt. Nicht so Argerich. Sie lässt sich weder in ein klingendes Machtgerangel verwickeln, noch hat sie es nötig, sich den klaren Strukturen des Werks zu widersetzen. Argerich kann das Klavier auch so zum Singen bringen. Kostet die lyrischen Stellen aus und umspielt das Sternenflimmern der Geigen mit einem kostbaren silbrigen Klang. Andernorts antwortet sie schneidend kühl auf die fast kubistischen Figuren der Geigen, dann wieder klingt es jazzig. Den ersten Satz beenden Orchester und Solistin mit so viel Schwung, dass Zwischenapplaus aufbrandet.

Ein abgeklärter Prokofjew ist das. Wenn Argerich im langsamen Satz in Klänge abtaucht, die wirken wie weit, weit unten im Meer, dann ist alle motorische Unruhe für Augenblicke vergessen. Am Ende wirkt sie fast benommen. Natürlich haben alle auf eine Zugabe gehofft. Aber bei dieser Künstlerin wusste man noch nie, das ist auch mit 78 Jahren noch so. Wird sie sich noch einmal setzen? Ach, es war nur eine kleine Drehung in Richtung Tastatur. Beim Abgehen legt sie eine Hand auf den Flügel, als hätte sie nach dem Doppelabend alle Kräfte ausgegeben. Den Herrn mit Blumenstrauß bemerkt sie nicht, er erreicht sie erst, als sie fast am Bühnenausgang angelangt ist.

Chefdirigent Sylvain Cambreling bekommt das Kunststück hin, die Spannung um den Auftritt dieser außergewöhnlich charismatischen Solistin herum nicht abfallen zu lassen. Schon die einleitende „Passacaglia“ von Anton Webern beschreibt einen hochdramatischen Bogen. Webern, der Meister der Reduktion unter den Zwölftönern der sogenannten Zweiten Wiener Schule, der sich in späteren Jahren auf wenige, äußerst durchdacht gesetzte Töne beschränkte, schwelgt in seinem op. 1 noch ganz spätromantisch.

Cambreling versteht sich auf Tschaikowskys Sehnsuchtston

Die Streicher klingen süß und rund, das Horn spielt seine Kantilene im weichsten Pianissimo. Doch zugleich offenbart die Musik jederzeit, wie intelligent sie strukturiert ist; hier und da glaubt das Ohr Anklänge an die „Verklärte Nacht“ des frühen Schönberg zu vernehmen, Weberns Lehrer. Aufregende Zeiten waren das in Wien um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert.

Und nach der Pause legen Cambreling und die Seinen noch ein paar Briketts drauf. Tschaikowskys Fünfte ist hörbar genau geprobt und fein gearbeitet. Cambreling weiß, was er vom Orchester will, und er bekommt es. Die Musiker schärfen die Kontraste, der erste Satz tanzt, als wäre er von Beethoven inspiriert. Ausbeulende Verzögerungen hat Cambreling nicht nötig. Bei ihm bezieht die Musik ihren Ausdruck aus der Plastizität und aus den Bezügen, die er mühelos herstellt. Jede Wendung hat ihren eigenen Charakter. Im Andante cantabile rollen die Streicher einen roten Teppich aus für die Hornsoli.

Der Pauker spielt oft zu laut und zu wattig, aber sonst bewährt sich das Orchester sehr anständig in der Akustik der Elbphilharmonie. Und was im Vergleich zur internationalen Konkurrenz an letzter klanglicher Delikatesse fehlen mag, das machen die Künstler mit Lebendigkeit und Einfallsreichtum wett. Cambreling, sonst gehandelt als Experte für Zeitgenössisches, versteht sich mit Herz und Kopf auf Tschaikowskys Sehnsuchtston: Das ist die große Überraschung an diesem Abend. Und so bekommt dieses eine Mal das Orchester beinahe noch mehr Jubel als die Weltklassesolistin.

Es gibt noch Karten für die Argerich-Festivalkonzerte am 28., 29. und 30. Juni in der Laeiszhalle. Infos: www.symphonikerhamburg.de