Hamburg. Chef des SWR Symphonieorchesters inszeniert Schostakowitschs “Leningrader“ so packend und brillant, wie es außer ihm niemand kann.
Komponisten sind nicht immer die besten Deuter ihrer Werke. Doch was Schostakowitsch 1942 in der „Prawda“ schrieb, zur Moskauer Erstaufführung seiner „Leningrader“ Sinfonie, traf den Kern dieser erschütternden, unbeugsamen, überwältigenden Musik, die in kürzester Zeit zur „Eroica“ des 20. Jahrhunderts wurde: „Ich wollte ein Werk schaffen über unsere Zeit, über unser Leben und die Menschen, die zu Helden werden.“ Während des damaligen Konzerts im Kreml wurde Luftalarm ausgelöst, das Publikum blieb dennoch, das Orchester spielte weiter, weil diese Musik ihnen offenbar die Angst vor dem unmittelbar drohenden Tod nahm.
Mehr als 70 Jahre später dirigierte Teodor Currentzis Schostakowitschs Siebente als großartiges, atemraubendes Finale seiner Residenz-Auftritte in der Elbphilharmonie, und nach dem letzten Akkord löste sich die Überspannung im Großen Saal nach etwa 80 Minuten in einen Applausrausch auf, der viel mehr war als der übliche Danke-schön-Beifall nach einem angenehm gelungenen Konzert. Currentzis hatte, wieder einmal, bewiesen, wie gut er als charismatischer Partitur-Dompteur ist, der Kompromisse und Lauwarmes verachtet und nicht zuletzt auch sich selbst schonungslos und mit vollem Körpereinsatz ins Ziel peitscht.
Hin und wieder gab es in den vergangenen ersten Spielzeiten der Elbphilharmonie Ausnahme-Abende wie diesen, über die man danach sagen konnte: Für derartig fordernde Meisterwerke und solche Extremisten wurde der Saal entworfen. Doch es braucht dann immer noch einen Dirigenten und ein Orchester, die diese empfindliche Akustik-Immobilie gemeinsam bis an die Grenze des Machbaren ausreizen können. Seit knapp einem Jahr erst ist Currentzis Chef des neu geschaffenen SWR Symphonieorchesters, dem Ergebnis einer heftig kritisierten Sparzwangs-Fusion; was er dort, in dieser lächerlich kurzen Zeit mit einem aus dem Nichts kommenden, veränderungshungrigen Klangkörper geleistet hat, ist schon jetzt oberhalb von spektakulär.
Currentzis ließ nicht einen Moment locker
Dabei fing der Kopfsatz, diese riesige Ode an die Tapferkeit gegen alle Widerstände, fast schon konventionell und brav an. Nach einem erwartungsgemäß flotten Auftakt schien Currentzis es zunächst darauf anzulegen, Schostakowitsch als Muster-Enkel von Tschaikowky darzustellen. Große russische Klangschule also, weiche Rundungen, behutsam ausgearbeitete Transparenz in den wunderbar vielschichtig gestaffelten Holzbläsern. Sehr schön so weit, war der anfängliche, trügerische Eindruck, aber auch (noch) nichts Besonderes. Nichts, was Schostakowitsch-Ereignisse mit Referenzgrößen wie Jansons, Haitink oder Nelsons mal eben toppen könnte.
Doch dann, in die gespannte Stille des Stimmungsumschwungs hinein, begann mit dem fast unhörbar leisen, knochentrocken und perfekt präzis tickenden Grundrhythmus der kleinen Trommel die Sensation. In Ravels „Boléro“ ist diese Idee nur eine niedliche Spielerei mit einer amüsanten Motiv; hier machte Currentzis ein radikales Spielen auf Leben und Tod daraus. In jeder der elf Variationen des berühmten „Invasionsthemas“ steigerte er den Druck, immer drängender, aber nie die Feinheiten der Balance aus den Augen verlierend.
Dass nach einzelnen Instrumentengruppen am Ende das gesamte Orchester Passagen im Stehen spielte, weil es das Tutti buchstäblich nicht mehr auf den Stühlen hielt, war nur konsequent. Es intensivierte die Wirkung noch, weil es eben nicht wie ein aufhübschender, ausgedachter Show-Effekt wirkte. Dieser Crescendo-Aufmarsch, der aber nie ins Lärmende kippte, die kalte, stahlharte Pracht, das dröhnende Pathos – und danach der Rückzug in die verhaltenere Innenwelt des zweiten Satzes. In eine Art vernebeltes Scherzo, das bei Currentzis zunächst in gedeckten Farben an Mahlers gottverlassene Weltskepsis erinnerte, bevor im Adagio-Beginn die hohen Streicher strahlend hell im Unisono funkelten und der Kampf gegen Unterdrückung und Unfreiheit in die nächste harte Runde gehen musste
Keinerlei Schwächeln in der Konzentration, Currentzis ließ nicht einen Moment locker und grub sich so auch mit manischer Präzision ins Getümmel des vierten Satzes. Auch hier, jenseits der virtuos aufeinander krachenden Themen, Kontraste, Steigerungen und Abstürze konnte es letztlich nur einen Gewinner geben: Schostakowitschs Musik, in eindringlich prächtigem und dennoch nicht zweifelsfreiem C-Dur endend, die existenzielle Erfahrungen mit Macht und Ohnmacht schildert. Hier hing es um Kunst, die von jedem einzelnen Gegenüber das unbeirrbare Streben nach aufrichtiger moralischer Größe einfordert. Dieses humanistische Anliegen hat Currentzis so packend und brillant inszeniert, wie es außer ihm momentan niemand kann.