Hamburg. Gewagt und gewonnen: Die Premiere zur Eröffnung der 45. Hamburger Ballett-Tage in der Staatsoper bekommt viel Applaus.
Wie würde Shakespeare heute über die Liebe nachdenken? Geht es nach den Tänzern und Choreografen Marc Jubete, Aleix Martínez und Edvin Revazov, würde er sich eine kalte, nach äußerer Perfektion strebende Welt vorstellen. Technisch kühl ist die verspiegelte Wand, die auf der Bühne der Staatsoper ein Labor freigibt, das ein wenig an Frankensteins Werkstatt erinnert. Beschürzte Arbeiter bevölkern diese Fabrik, in der Menschen auf einmal belebte Puppen, vielleicht ja Humanoide, begehren, die künstlich wohlgeformt, aber dennoch elegant in Glasvitrinen posieren.
Solch zukunftsträchtige Welten hat es beim Hamburg Ballett noch nie gegeben. Eigentlich wollte John Neumeier zur Eröffnung der 45. Hamburger Ballett-Tage, die traditionell die Saison beschließen, „Die Glasmenagerie“ aufführen. Doch nun fügte es sich, dass die Premiere auf den Dezember verschoben werden musste. Gleichzeitig fehlten im Frühjahr die Räume für die beliebte Reihe der „Jungen Choreografen“.
Und so dürfen diesmal die drei herausragenden Tänzer Jubete, Martínez und Revazov gemeinsam die Sommerpremiere gestalten und neben der Choreografie auch das Bühnenbild und die Kostüme verantworten. „Shakespeare-Sonette“ ist der Ballettabend überschrieben, die Verbindung der Szenen mit den 154 zauberhaften Gedichten, die Shakespeare 1609 im vierzehnzeiligen Sonett-Format veröffentlichte, ist allerdings erst auf den zweiten Blick erkennbar. Die meisten von ihnen besingen das Hochgefühl, das man gemeinhin die Liebe nennt, mit romantisch und schwärmerisch verklärtem Blick. Doch Shakespeare war bekanntlich ein großer Menschenkenner, und so verschweigt er auch die Abgründe, etwa Begierde und Verrat, nicht. Die Sonette richtete er an einen imaginären Jungen. Der durch ihn verkörperten Idee von Reinheit stellte er eine mysteriöse dunkle Dame gegenüber.
Drei Handschriften werden an einem Abend verbunden
Die Sonette selbst – aber auch die Umstände ihrer Entstehung – beschäftigten die drei Choreografen auf verschiedene Weise. Weshalb das Konzept dieses Abends notwendig auseinanderfallen muss bei dem Versuch, drei obendrein erst im Entstehen begriffene Handschriften in einem Abend zu vermengen. Bei genauem Hinsehen werden die Schöpfer unterscheidbar. Das Zusammenspiel der Kompanie insgesamt funktioniert aber erstaunlich gut, sodass am Ende doch noch so etwas wie ein organisches Ganzes entsteht.
Mit radikal zeitgenössischen und sehr dynamischen Gruppenchoreografien, vor allem in dem furiosen „Forced March“ zur wuchtigen Industrial-Musik von Ben Frost, offenbart sich der Jüngste, der erst 24-jährige Aleix Martínez, als der Avantgardist unter den dreien. Die abstrakt uniformierten Tanzenden wechseln im Nu vom Boden in den Stand, sind kraftvoll in Sprung und Ausdruck. Martínez geht es um das Hinterfragen von Schönheitsidealen, von Liebe in einer oberflächlichen Welt, die jede Vielfalt ignoriert. Aber er versteht sich ebenso auf intime Begegnungen, etwa wenn er Florian Pohl und Marià Huguet auf den berückend innerlich tanzenden Jacopo Bellussi treffen lässt.
Berückend innige Momente zwischen den Tänzern
Die Liebe erscheint als Wechselspiel der Personen, der Geschlechter, aber sie ist eine ernsthafte Angelegenheit. Edvin Revazov ist für die sensitiven Momente des Abends zuständig, die zarten Gesten, das mitunter übersteigerte Gefühl. Das gelingt ihm am eindringlichsten nach der Pause in „World To Come“. Vor allem zwischen Florian Pohl und Anna Laudere entstehen in zeitlupenartigen Hebungen berückend innige Momente. Und Emilie Mazon überzeugt im Duett mit Jacopo Bellussi. Der technisch versierte Marc Jubete schafft wiederum Szenen von großer Akkuratesse in mal geometrischen, mal fließenden Bewegungen. Eindrucksvoll lässt er Yaiza Coll und Lizhong Wang mit weiß gekalkten Körpern gewissermaßen das ideale Liebespaar verkörpern. Andere Teile zeigen Schwächen mit zu langen Übergängen und noch unausgegorenen Bewegungen.
„Die Liebe brennt wie ein Fieber“, heißt es bei Shakespeare. Und so wandelt Lloyd Riggins als Beobachter, dann auch Teilnehmender durch diese Welt der Künstlichkeit, der Liebessehnsucht und Innigkeit, die zugleich doch eine von Einsamkeit und Schmerz ist.
Ungewohnte und oft dunkle Bilder
Die musikalische Gegenüberstellung von Songs der Gegenwart wie jene der düsteren Norwegerin Ane Brun mit der Klangwelt der Renaissance aus der Shakespeare-Zeit kreiert eine Verbindung mit dem Jetzt, die nie bemüht wirkt. Wohltuend auch, dass es kaum reine Ballettfiguren gibt, dafür viel schwungvolle, vor allem bei Martínez, expressive zeitgenössische Bewegungssprache.
Das vielleicht Erstaunlichste an dem Abend „Shakespeare-Sonette“ ist, dass er überhaupt möglich wurde. Dass ein Abend, der sonst vielleicht in loser Szenenfolge in der Opera Stabile gezeigt worden wäre, nun in der Staatsoper vor ein großes Publikum gelangt. Dieses zeigt sich den ungewohnten und oft dunklen Bildern gegenüber sehr aufgeschlossen und honoriert mit starkem Applaus. Ein wichtiges Signal des Aufbruchs in die Zukunft für das Hamburg Ballett.