Hamburg. Nicolas Stemanns „Lab.Oratorium“ thematisierte das Leid von Flüchtenden – mit brachialen musikalischen Mitteln.
Auf Grund gelaufen, überfrachtet, Schlagseite, ... Es gäbe viele Wortspiele und Metaphern, die sich nach einem Abend wie diesem schnell anböten. Die Katastrophe deutete sich mit einem abstrakten Höllenkrach an, der einem durch Mark und Bein fuhr, das war Absicht. Die Verschmelzung von zeitgenössischer Musik mit mahnender Katastrophen-Poesie von wieder erschreckend aktuellen Klassikern wie Trakl, Ahrendt oder Bachmann, dazu typische Anklage-Tiraden aus Jelineks „Schutzbefohlenen“, wuchtig montiert, collagiert, geschichtet, vertont, vertheatert und mit elektronischen Special-Effect-Raumklängen aus allen Richtungen angereichert – all das war zornige Absicht und gewollte Überforderung.
Was immer die Sopranistin Rinnat Moriah und die Mezzosopranistin Tora Augestad dabei in bester Absicht in oft höchsten Tönen sangen, blieb aber weitestgehend ein Rätsel. Dazu zwei gestisch hyperventilierende Schauspieler (Sebastian Rudolph und Patrycia Ziolkowska), die als Entertainer-Evangelisten vom Mittelmeer-Touristendampfer „MS Europa“ berichteten und zynisch die Disco-Posen zu „Staying Alive“ zitierten.
Ein Rettungsschiff mit oben und unten und klaren Absperrungen dazwischen, auf dem man solange blind für die Schicksale von Geflüchteten ist, bis das nicht mehr geht. Bis Tod, Angst, Verzweiflung das Sonnendeck der Sichereren fluten. Bis diese leidenden Menschen einem gegenüberstehen, laut und Hilfe suchend. Später waren die beiden auch Sprecher dieser anderen, mit der gleichen Intensität.
Man entkam diesem Überdruck des Gutgemeinten nicht
Das „LAB.ORATORIUM“-Projekt, mit dem der auf Jelinek-Umsetzungen abonnierte Regisseur Nicolas Stemann und der Komponist Philippe Manoury an das Gewissen und an die Menschlichkeit appellieren, nutzte so ziemlich alles, was der Große Saal der Elbphilharmonie für solche Aufgaben an Bespielungsmöglichkeiten bieten kann.
Das SWR Vokalensemble Stuttgart, auf heikle Avantgarde-Missionen spezialisiert, wurde zunächst in den Publikumsreihen verteilt, die Ton-Techniker des Pariser IRCAM-Centre saßen an den Reglern, der Hamburger Projektchor „Chor zur Welt“ schritt mit Totenlämpchen in den Rang hinter der Bühne. Auf allen Seitenetagen waren kleine Instrumentengruppen verteilt. Überall wurde behauptet, erklärt, philosophiert, verzweifelt, gekentert, gescheitert, gehofft. Man entkam diesem Überdruck des Gutgemeinten nicht, nirgendwo, in keinem Moment.
Eine Lektion, die unter der Last ihrer Bedeutungsschwere kollabierte
Einzig in kesselähnlichen Sälen wie dort und den Philharmonien von Köln und Paris ist ein solches Spektakel möglich, deswegen war die Koproduktion des Kölner Gürzenich-Orchesters eine grenzübergreifende, beeindruckende Zusammenarbeit; dessen Chefdirigent Francois-Xavier Roth hielt die aufbrausenden Akkordmassen mit bestechender Sicherheit auf Kurs. Und dennoch war all das, selbst all das kein Erfolg. Sondern eine überstrapazierte Lektion, die zwar perfekt choreographiert war, doch unter der Last ihrer eigenen Bedeutungsschwere dröhnend kollabierte.