Hamburg. Dirigent Daniel Harding formt das Riesengebilde des monumentalen Britten-Werks “War Requiem“ mit Übersicht und Hingabe.

Die Röhrenglocke sagt alles. Leise klingt sie, fast diskret, und schwingt lange nach. Erst in der Wiederholung setzt ihr Klang sich im Bewusstsein fest, neutral und unerbittlich. Es ist der Klang einer Totenglocke. "Requiem aeternam" flüstert der Chor in den wie immer festlich schimmernden Großen Saal der Elbphilharmonie.

Der Widerspruch zwischen Ambiente und Musik könnte deplatziert wirken, aber darauf achtet an diesem Abend niemand. Einen Tag nach ihrem fulminanten Elbphilharmonie-Debüt sind das Orchestre de Paris und sein Chefdirigent Daniel Harding wieder am selben Ort zu hören. Statt eines mitreißenden sinfonischen Programms haben sie sich dieses Mal Benjamin Brittens monumentales "War Requiem" vorgenommen.

Das Werk ist sozusagen das Gegenstück zu Giuseppe Verdis "Messa da Requiem". Statt auf süßen Herzschmerz und süffige Melodien setzt Britten auf strukturelle Kontraste. Den Kompositionsauftrag erhielt er 1962 anlässlich der Einweihung der neuen Kathedrale von Coventry. Die alte hatte die deutsche Luftwaffe 1940 zerstört, doch der Architekt bezog die Ruine in seinen Entwurf mit ein. Ähnlich geht auch Britten vor: Den Text der lateinischen Totenmesse verschränkt er mit Auszügen aus Gedichten von Wilfred Owen, der die grauenhaften Erfahrungen des Ersten Weltkriegs in schonungslose Texte goss und 1918 kurz vor Kriegsende im Alter von 25 Jahren starb.

Zwischen ohnmächtigem Zorn und Hoffnung

"Welche Totenglocken läuten denen, die wie Vieh sterben? / Nur die ungeheure Wut der Geschütze, / Nur das Knattern ratternder Gewehre“, singt der Solo-Tenor. Britten deutet die englischen Texte bis in jeden Winkel aus, von ohnmächtigem Zorn bis zur Hoffnung des erschöpften, zermürbten Ich. Andrew Staples und der Bariton Christian Gerhaher verkörpern die Soldaten, denen die Owen-Gedichte ihre pazifistische Stimme leihen. Bessere Interpreten kann man sich für diese Passagen nicht wünschen. Hell und beweglich führen sie ihre Stimmen und wirken dabei, als sprächen sie zu jedem einzelnen Hörer von ureigenen Erfahrungen.

Der Komponist stellt ihnen ein Kammerensemble zur Seite, während der Chor den lateinischen Liturgietext singt und vom immens besetzten Orchester begleitet wird. Allein sieben Schlagwerker säumen die Rückwand der Bühne. Aber Trompetenfanfaren und Schlagzeug-Gewehrsalven zerbröseln unter Brittens Zugriff zu fernen Abbildern der Vergeblichkeit. Krieg ist keine Lösung, das ist die Botschaft dieses Abends. "Errette mich, Herr“, flehen und schreien die Sopranistin Emma Bell und der Choeur de l’Orchestre de Paris im "Libera me“ . Das ist der Moment, auf den dynamisch alles zuläuft, das Tutti überspült den Saal förmlich und verebbt dann in immer langsameren Pulsschlägen.

Harding formt dieses Riesengebilde mit Übersicht und Hingabe. Und hält nach dem letzten „Amen“ eine Stille so lang und so ergriffen, wie sie in diesem Saal womöglich noch nie zu erleben war.