Hamburg. Die Pianistin förderte Tiefenentspannung beim Laeiszhallen-Publikum – bis zur Pause. Danach war Grimaud wie ausgewechselt.

Theaterschlaf sei unbedingt der gesündeste, erklären Theaterkritiker sofort nach dem Erwischtwerden, versehen mit der Begründung, man würde dem Raum und dem Theater an sich so vertrauen, dass dieses Kurzzeitdösen auch ein Zeichen tiefempfundener Wertschätzung für die gebotene Kunst und ihrer Überbringer sei.

Möglicherweise hatte die Pianistin Hélène Grimaud, die gern unkonventionelle Programmkonzepte entwirft, auch diese These im Hinterkopf, als sie ein Dutzend nocturniger Stückchen zu einer sehr tiefenentspannten und jogamattenkompatiblen Träumereien-Playlist in Dös-moll einschmolz: impressionistische Miniaturen von Satie (u.a. einige der „Gnossiennes“) und Debussy, spätromantisch verschattete Nachtstücke von Chopin, dazu neoromantische Zartbitter-Pralinés des 1937 geborenen Ukrainers Valentin Silvestrov.

Schön und kuschelsanft – aber auch ein wenig unterkühlt

Das Licht im Großen Saal der Laeiszhalle war stark gedämpft, um das leise Insistieren dieser Musik aufs Fastnichtsmehrtunwollen sichtbar zu machen. Sie schlug Innehalten vor und ernsthaftes Grübeln, Besinnung und - schönes Modewort - Entschleunigung.

Schön war es und kuschelsanft, allerdings auch, trotz aller Empathie, ein wenig unterkühlt dargeboten; wenn es beispielsweise in Debussys „Clair de lune“ darum ging, das Mondlicht behutsam mit den Flügeltasten einzufangen oder in den „Arabesques Nr. 1“ grazil vom Boden der Tatsachen ins Land der Träume abzuheben, blieb Grimauds Interpretation einige Grade zu cool und konkret. Auch die Chopin-Nocturnes hätten mehr erkennbar glühende Kontraste vertragen. Dennoch: Der erste Teil dieses Konzert-Experiments hatte klugen Charme und poetische Anmut.

Nach der Pause war Hélène Grimaud wie ausgewechselt

Umso drastischer und extremer warf, eher: stürzte sich Grimaud nach der Pause in Schumanns „Kreisleriana“ und war wie ausgewechselt. Unter ihren furios nach Halt und Lebenssinn grabenden Händen wurden die acht widersprüchlichen Charakterstücke zu einem Borderline-Zyklus, schicksalsgetrieben von einem Ausbruch in den nächsten. Dass Grimaud in den ruhigen Episoden die Tempi sehr zurücknahm, ließ die drastische Raserei in den schnellen Sätzen nur um so deutlicher hervortreten.

Grimaud suchte das Risiko, ließ sich voll und ganz auf die nicht kleine Gefahr ein, von den Fliehkräften dieser Musik erbarmungslos aus der Bahn geworfen zu werden, insbesondere in der irrwitzig heiklen Phantasie Nr. 7. Man könnte diese „Kreisleriana“ sicher weniger bipolar spielen, gesitteter, manierlicher, verklärender, abgeklärter und detailklarer. Denn in den turbulenten Episoden entglitt Grimaud mitunter die geschärfte Feinzeichnung, vielleicht auch, weil ihr der voluminöse Klangeindruck und die Hingabe an die eigene Überforderung wichtiger war als die gehorsame Ablieferung von Nebenstimmen. Dass sie das nicht wollte oder, aus ihrer Perspektive betrachtet, nicht anders konnte, machte diesen Abend, der mit begeistertem Applaus und vier Zugaben endete, zu einem Plädoyer fürs befreiende, hellwache Durchdrehen.

Aktuelle CD: Hélène Grimaud „Memory“ (DG, ca. 15 Euro)