Hamburg. Der Lette leitete das Gewandhausorchester an zwei Abenden in der Elbphilharmonie. Es gab Mendelssohn und Schumann – große Kunst.

Vorhang auf, Showtime! Gleich die ersten Minuten des ersten Abends in der Elbphilharmonie erwiesen sich als komplette Lehrstunde, als Bravourstückchen, obwohl dort noch fast nichts passierte. Das allerdings auf höchstem Niveau.

Die Konzertouvertüre „Meeresstille und glückliche Fahrt“ hatte zwar der junge Felix Mendelssohn Bartholdy geschrieben, doch Andris Nelsons – durch und durch Instinkt-Wagnerianer – erinnerte hier eindrücklich subtil daran, dass der pöbelnde Mendelssohn-Verächter Wagner diese Goethe-Gedichte-Vertonung sehr aufmerksam studiert haben muss, während er sich an seinen eigenen „Fliegenden Holländer“ machte.

Und wie bereits in diesem Geniestreich, einige Jahrzehnte vor Debussy, gespannte Stille und Wasser-Klangfarben herausgezaubert werden können – aber eben nur, wenn man weiß, wie und an welchen Stellen der Partitur sie hineinkamen. Holzbläser-Delikatesse, feinst ausgewogene Einsätze, Präzisionshörner, ein unaufdringlich präsenter Streicherklang zum Heiratenwollen. Ganz große Kunst.

Nelsons führt das Orchester mikroinvasiv

Und schon weit vor Ende dieser kurzen Ouvertüre war klar: Andris Nelsons ist, mit passendem Repertoire und Orchester, der Maestro der großartigen kleinen Dinge wie kaum jemand sonst momentan. Wobei man allerdings auch bei den beiden umjubelten Tournee-Gastspielen des Leipziger Gewandhausorchesters im Großen Saal der Elbphilharmonie wieder einmal erfreut rätseln durfte, was letztlich sein Erfolgs-Geheimnis ist.

Große, autoritäre Gesten sind es schon mal nicht. Nelsons führt seine Orchester offenbar entweder mit den Augen oder dem Herzen, mikroinvasiv jedenfalls, herrisches Nachjustieren gibt es bei ihm auf der Bühne nicht. Kein Wunder also, dass beide Konzertmeister der beiden Abende ihr Dauerlächeln neben diesem everybody’s darling-Dirigenten nicht aus dem Gesicht bekamen.

Zwei Konzerte, mit abgestimmten Programmen zu Mendelssohn und Schumann, mit einer Traditions-Kapelle wie dem Gewandhaus? Diese Art von vertieftem Leistungs-Panorama ist als Gastspiel eher neu für hiesige Verhältnisse. Und dass ausgerechnet ein Orchester aus dessen späterem Lebensmittelpunkt Leipzig mustergültig vorführte, wie elegant man Musik des gebürtigen Hamburgers Felix Mendelssohn Bartholdy strahlen lassen kann? Ein feiner Ansporn, konstruktiv betrachtet, und Beleg dafür, wie viel Luft noch nach oben ist; erst recht, wenn man sich die Mühe macht, die Raritäten unter den Erbstücken zu polieren. Denn auch die „Ruy Blas“-Ouvertüre, einen Abend später und noch unbekannter, war hochdosiertes, hochdramatisches aufgeladenes Mendelssohn-Glück.

Kein starres Form-Korsett

Mendelssohns „Italienische“ sollte die Abende beschließend abrunden und tat es, weil Nelsons bei aller Brillanz immer noch Zeit fürs sonnige Ausleuchten von Situationen und Stimmungen fand. Zwei große Schumann-Sinfonien – die „Rheinische“ und die Zweite (von Mendelssohn im Gewandhaus uraufgeführt) – legten den Schwerpunkt auf einen weiteren Komponisten mit prägendem Leipzig-Bezug. Und mit Hélène Grimaud beim Schumann-Klavierkonzert hatte Nelsons eine Solistin neben sich auf der Bühne, die seinem Timing blind vertraute.

So selbstverständlich war der wortlose Dialog, dass Grimaud sich bedenkenlos einige Freiheiten nehmen konnte, um das klassische Form-Korsett hier und da zu lockern. Um schwärmerisches Durchatmen und schwelgerische Leichtigkeit zuzulassen, Spielraum für fabulierende Momente. Viele der Passagen, in denen Schumanns Solo-Part ansonsten stramm und straff auf struktureinhaltende Geradlinigkeit abzielt, ließ sie lockerer perlen als gewohnt, immer mit der Zuversicht, dass Nelsons reaktionsschnell und dezent schon die große Linie halten würde.

Kompliment für hinreißendes Können

In den Schumann-Sinfonien sorgte Nelsons’ Routineferne immer wieder für angenehme Überraschungen. Der mehrfache Szenenbeifall zwischen den Sätzen war also auch Kompliment für hinreißendes Können. Nach erst einem Jahr im Leipziger Amt hat Nelsons bereits ein sicheres Gespür für die DNA dieses Klangkörpers und den Stolz auf die eigene Geschichte. Seine Lesart gerade dieser deutschen Klassiker ist enorm respektvoll, er will sie nicht mit Macht beliebig auf links drehen, sondern Satz für Satz darstellen, wie hier mit Ideen und Entwicklungen umzugehen ist.

Die „Rheinische“ wuchs zu einem frohsinnlichen, schwungvollen Stimmungs-Panorama, in dem tänzerische Leichtigkeit das immer drohende Übergewicht aus Blech und Bombast in den Schlusssätzen klug ausglich. Die unhandlichere, sperrigere Zweite? Beim Gewandhaus eine noble Charakterstudie, deren Eigensinnigkeit, immer wieder knorrig aufbrausend, in Nelsons’ Interpretation geradezu handzahm und brav wirkte. Aber nie harmlos.

Aktuelle CD-Tipps: Schostakowitsch 4. & 11. Sinfonie. Boston Symphony (DG) / Bruckner 7. Sinfonie und Diverses von Wagner. Gewandhausorchester (DG).

Nächstes Konzert von Andris Nelsons: 8. April, 20 Uhr, Elbphilharmonie, Großer Saal, mit den Wiener Philharmonikern, Beethovens Tripelkonzert und der 5. Sinfonie. Evtl. Restkarten an der Abendkasse.