Hamburg. Aufwühlend, anrührend, packend: Stardirigent Teodor Currentzis verwandelt Verdis Requiem in eine musikalische Achterbahnfahrt.

In die Noten hatte Giuseppe Verdi ein Pianissimo geschrieben, schon das schaffen längst nicht alle einwandfrei. Doch wie die Celli am Beginn des Requiems im Großen Saal der Elbphilharmonie das erste Thema fast nicht mehr spielten, das war um etliche Abstufungen leiser, ganz kurz vor unhörbar. Nur noch ein Hauch der sieben Töne, die gottergeben in die Tiefe sinken und danach ein Choreinsatz, der drastisch andeutete, wohin diese letzte Reise gehen würde.

Ein erstes, unglaubliches Omen für die packende Intensität, mit der Teodor Currentzis eine ebenso aufwühlende wie anrührende Achterbahnfahrt aus Verdis Requiem machen sollte, himmelhoch hoffend, zu Tode betrübt, bis nach dem letzten Akkord des „Libera me“ die Totenstille einsetzte, die dieser Musik angemessen war.

Teodor Currentzis: radikal geschmeidig

Riccardo Chailly und das Mailänder Scala-Orchester hatten vor einem Jahr die hiesige Messlatte mit einer eleganten bella-figura-Interpretation äußerst hoch gelegt – Currentzis dagegen ging mit radikaler Geschmeidigkeit und einer sehr anderen Art von Detailkontrolle ins Ausloten der Extreme. Das gesamte Requiem, ein einziger Special Effect. Er inszenierte straff die liturgische Strenge der Chorsätze, andererseits aber gab er dem Solistenquartett allen gestalterischen Freiraum der Welt, um ihre Partien mit theatraler Dramatik und sehr entrückter Innigkeit auszukosten.

Die akustischen Möglichkeiten der Elbphilharmonie als Wirkungsverstärker sind Currentzis inzwischen bestens vertraut, die Bühne war randvoll, dennoch klang deswegen nichts gestaucht oder überzogen. Der Rest war künstlerischer Instinkt, Herzenswärme, Bauchgefühl. Das alles hat man – er hat, reichlich – oder eben nicht. Und da er mit seinem MusicAeterna-Orchester und -Chor über zwei Ensembles verfügt, die ihm jeden Wunsch von den flatternden, zupackenden, fein modellierenden Fingerspitzen ablesen und zu Musik machen können, wurde aus der Totenmesse, man kann es so sagen: ein Wunder.

Aus der Totenmesse wurde unter Currentzis ein Wunder

Schöner Zufall dabei: Beide Dirigenten, ästhetisch drastisch weit voneinander entfernt, hatten den jungen Tenor René Barbera für ihr Hamburg-Gastspiel engagiert. Bei Chailly war der Amerikaner das klar herausragende Glanzlicht der vier; bei Currentzis mit diesem leichten, satt strahlenden Stimm-Schmelz aber „nur“ eine von vier gleichermaßen grandiosen, ebenbürtigen, bestens miteinander auskommenden Stimmen. Der Mezzo von Varduhi Abrahamyan schmiegte sich ins Gesamtbild, der samtige Bass von Tareq Nazmi war fundamental erschütternd.

Während der frohgemut überzogenen Probezeit hatte Currentzis am Montag noch mehrere Positionsmöglichkeiten ausprobiert, um die Trompeten im „Tuba mirum“ möglichst effektvoll in den Höhen des Raums zu platzieren. Am Ende – zumindest in der ersten der beiden Aufführungen – standen sie an den Bühnenrändern. Schade eigentlich, denn dieser Surround-Effekt wäre aus größerer Entfernung noch intensiver gewesen, obwohl auch das „Dies irae“-Dröhnen plakativ nach ungebremstem Höllensturz klang. Das war aber auch so ziemlich das einzige Wermutströpfchen.

Die nächste gute Idee war der Positionswechsel der Sopranistin Zarina Abaeva für das abschließende Solo im „Libera me“, vom Bühnenrand auf ein Podest in der Mitte des Chores; dort sang sie dem Ende entgegen, noch engelsgleicher als ohnehin schon. Und die scheinbare Ewigkeit, in der Currentzis vor dem tosenden Applaus die Spannung hielt und man kaum in diese Ruhe zu atmen wagte, war der Abschluss eines Konzerts, das so schnell wohl nicht zu übertreffen ist.