Hamburg. Am Altonaer Theater bringt Intendant Axel Schneider einen weiteren Teil der „Deutschen Chronik“ auf die Bühne. Viel Applaus.
Bautzen, das gefürchtete Gefängnis in der DDR: 25 Jahre soll Walter Kempowski hier einsitzen, nachdem ein russisches Militärtribunal ihn und seinen Bruder Robert 1948 wegen Spionage verurteilt hat. An diesem Ort reift in ihm der Plan, seine Familiengeschichte aufzuschreiben, um vor allem seiner Mutter Grethe ein literarisches Denkmal zu setzen.
Am Ende des dritten Teils der „Kempowski-Saga“ erklärt Johan J. Richter, der Walter Kempowski am Altonaer Theater spielt, den Zuschauern seine schriftstellerischen Ambitionen. Der Weg zur „Deutschen Chronik“, jenem neunbändigen Romanzyklus, ist jedoch noch weit, erst einmal muss Kempowski wieder aus dem Gefängnis entlassen werden. Die Theaterbesucher in Altona haben am Ende des Premierenabends jedoch schon drei Viertel dieser Familien-Chronik erlebt, die Ende des 19. Jahrhunderts in Rostock beginnt und bis in die 70er-Jahre reichen wird. Für den dritten Teil hat Regisseur und Autor Axel Schneider die Romane „Ein Kapitel für sich“ und „Uns geht’s ja noch Gold“ bearbeitet und zusammengefasst.
„Uns geht’s ja noch Gold“
Der Ausspruch „Uns geht’s ja noch Gold“ stammt von Grethe Kempowski (Anne Schieber) – allerdings aus der Zeit, bevor ihre Söhne verhaftet worden sind und ihr selbst wegen Beihilfe zehn Jahre Lagerhaft bevorstehen. Grethe gehört zu den Menschen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Besetzung Rostocks durch russische Truppen eine Meisterin der Verdrängung ist.
Anne Schieber spielt ihre Figur als naive Frau, die sich vieles schön redet, die jüngere Vergangenheit als „Nazi-Scheiß“ abtut und ein gänzlich unpolitischer Mensch ist. Für ihre beiden Söhne ist sie wie eine Glucke, den Tod ihres Mannes, der in den letzten Kriegstagen gefallen ist, nimmt sie hin. Eine Reflektion deutscher Schuld liegt ihr fern, es geht ihr darum, möglichst viel Besitzstand zu bewahren und den russischen Soldaten aus dem Weg zu gehen. Sie versucht sich durchzulavieren.
Hohes schauspielerisches Niveau
Geschildert werden die Jahre zwischen 1945 und 1948 aus der Sicht Walter Kempowskis, der bei Kriegsende 16 Jahre alt ist. Wie schon in den beiden vorangegangenen Inszenierungen von Axel Schneider ist Johan J. Richter als Erzähler die zentrale Figur. In „Ein Kapitel für sich“ muss Richter immer wieder zwischen Erzählen und Spielen wechseln, denn nun ist er kein Beobachter mehr, sondern wesentlicher Teil der Handlung. Richter gelingt das mühelos auf hohem schauspielerischen Niveau. Er kann Begebenheiten sachlich schildern, sich aber auch mitten ins Geschehen stürzen, Partys mit Freunden feiern, Geschäfte auf dem Schwarzmarkt machen und sich zu einem Freund (Tobias Dürr) nach Wiesbaden absetzen. „Nie wieder zurückkehren“, will er. Doch eine Reise 1948 zu Mutter und Bruder wird ihm zum Verhängnis.
Sehr eindrucksvoll gelingt Richter die Szene seiner Inhaftierung, als er sich vor einer Wärterin nackt ausziehen muss, mit kaltem Wasser übergossen wird und dann zitternd und zusammengekauert auf dem Boden sitzt.
Tobias Dürr spielt 16 verschiedene Figuren
Johan Richter als Walter Kempowski ist zwar das Zentrum der Inszenierung, doch er wäre nichts ohne seine acht Mitspieler. Die dramatische Umsetzung des Romanzyklus basiert auf vielen kurzen Szenen, in denen die Ensemblemitglieder – außer Richter, Schieber und Philipp Spreen als Robert Kempowski – Dutzende unterschiedlicher Rollen ausfüllen müssen. Besonders gefordert ist Tobias Dürr, der 16 verschiedene Figuren zu spielen hat und sich als wahrer Verwandlungskünstler zeigt. Immer wieder gelingen ihm kurze starke Szenen, wenn er etwa als Walters Mithäftling auf dessen Brotrinde starrt und darüber zu räsonieren anfängt, wie sich Brot im Mund in Zucker verwandelt. Besser ist Hunger kaum darstellbar. Auch Katrin Gerken, Ute Geske, Detlef Heydorn und Nadja Wünsche zeigen in immer neuen Kostümen (Sabrina von Allwörden) ihre Wandlungsfähigkeit. Neu in dieser Schauspieler-Truppe ist Hans Schernthaner, der anstelle von Dirk Hoener vor allem dem Familienfreund Cornelli Gestalt geben muss.
Für die Schauspieler bedeutet der mit viel Beifall aufgenommene Abend „Nach der Premiere ist vor der Premiere“, denn bereits am nächsten Tag geht es weiter mit den Proben für „Herzlich willkommen“, den vierten und letzten Teil der „Kempowski-Saga“. Die Premiere geht am 18. April im Altonaer Theater über die Bühne und erzählt von Kempowskis Haftentlassung und seinem Neuanfang in der Bundesrepublik