Hamburg. Der Schauspieler spielt in der Kempowski-Saga am Altonaer Theater mehr als ein Dutzend Rollen. Am Sonntag ist die nächste Premiere.
Ohne seine Listen wäre Tobias Dürr aufgeschmissen. Die Garderobieren im Altonaer Theater haben ihm schon während der Proben die Abfolge seiner Auftritte auf zwei große Zettel geschrieben, die auf beiden Seiten der Bühne hängen. „Ich bin zwar von der Bremer Shakespeare Company Rollenwechsel gewohnt, aber beim Kempowski-Projekt geht das Schlag auf Schlag. Rauf auf die Bühne, zwei Sätze sagen, wieder runter, umziehen, nächste Rolle“, erzählt der Schauspieler.
In der Kempowski-Saga, bei der Intendant Axel Schneider die neun Bände der Familiengeschichte „Deutsche Chronik“ in insgesamt vier Teilen auf die Bühne bringt, spielt Dürr den Liebhaber August Menz, den Tenor Müller, den Reeder Sörensen und ein weiteres Dutzend Figuren. „Es ist auch eine sportliche Herausforderung“, sagt er. „Manchmal reicht für die Verwandlung schon, die Mütze verkehrt herum aufzusetzen oder die Körperhaltung zu verändern.“
Neun Schauspieler teilen sich viele Rollen
Tobias Dürr ist in Axel Schneiders Inszenierung ein Stichwortgeber, doch das macht ihm nichts aus. „Der Einzige, der den gesamten Bogen im Blick hat, ist bei uns Johan Richter, der Walter Kempowski spielt und als Erzähler fungiert“, erklärt Dürr. Nur neun Schauspieler müssen sich die vielen Rollen teilen und immer wieder in neue Figuren schlüpfen. Das ist Teil von Schneiders Inszenierung, der auch die Textfassung geschrieben und das epische Geschehen dieser Familiensaga verdichtet hat.
„Natürlich macht es mir auch Spaß, eine Hauptfigur zu spielen, aber ,Die Deutsche Chronik’ ist Ensemble-Arbeit“, sagt Dürr. Er selbst sieht sich als spielenden Handwerker. „Das schnelle Umschalten gehört dazu. Bei den Proben habe ich mir zu jeder Figur etwas überlegt, aber wenn das Spiel beginnt, ist keine Zeit mehr nachzudenken.“
Letzte Proben für „Ein Kapitel für sich“
Zurzeit steckt der an der Hamburger Stage School ausgebildete Schauspieler in den Endproben für „Ein Kapitel für sich“, dem dritten Teil der Saga, in dem es um Kempowskis Haftzeit nach Ende des Zweiten Weltkrieges in der späteren DDR geht. Am Sonntag feiert das Stück Premiere am Altonaer Theater. Am 18. April folgt dann „Herzlich willkommen“, der vierte Teil. Zu einer großen Herausforderung für das Ensemble werden die Wochenenden am 20./22. und am 27./28. April. Dann werden alle vier Teile dieses Theaterprojekts, das vor einem Jahr begonnen hat, gezeigt. „Natürlich habe ich vor so einem Marathon Lampenfieber. Das ist etwas anderes, als wenn ich in Bremen 110-mal ,Was ihr wollt’ spiele.“ Da sei eben alles vertraut und die Anspannung deshalb viel geringer, offenbart der Schauspieler.
Dürr, in Reutlingen geboren und in Düsseldorf aufgewachsen, lebt seit 15 Jahren in Hamburg, hat aber an hiesigen Bühnen kaum gearbeitet. Seit 2005 spielt er für die renommierte Bremer Shakespeare Company, sechs Jahre lang als festes Ensemblemitglied, jetzt als Gast mit derzeit fünf bis sechs Produktionen. Für Dürr bedeutet das ständige Pendeln zwischen Bremen und Ottensen, wo er lebt, anstrengende Termin-Koordination zwischen den verschiedenen Theatern. „Ich bin aber glücklich, dass ich jetzt quasi vor meinen Haustür spielen kann. Ich kenne Axel Schneider schon seit vielen Jahren und bin froh, dass ich Teil des Ensembles geworden bin.“ Ensemble-Arbeit ist für den 44-Jährigen wichtig. „Ich fand es spannend, zusammen mit Kollegen vier Stücke zu spielen und am Leben einer Person abzuarbeiten. Inzwischen haben wir etwa 30-mal gemeinsam auf der Bühne gestanden. Das gibt uns eine Menge Sicherheit für die nächsten beiden Teile. Wir sind bei den Proben sehr gut durchgekommen, weil jedem das Prinzip der Arbeitsweise klar ist.“
Ensemble besuchte Witwe von Kempowski
Bevor er für die „Kempowski-Saga“ engagiert wurde, wusste Dürr nichts von dem Schriftsteller, der bis zu seinem Tod im Jahr 2007 im Kreis Rotenburg/Wümme gelebt hat. Während der Probenarbeit besuchte das Ensemble im vergangenen Jahr Kempowskis Witwe im Haus Kreienhoop, das jetzt Ort einer Stiftung geworden ist und einen tiefen Einblick in Kempowskis Leben und Werk gibt: „Es ist ein Haus, das voller Geschichten steckt. Es wäre spannend, mit dem Ensemble jetzt noch einen fünften Teil zu entwickeln, der sich aus unserer Sicht mit Kempowski beschäftigt. Vieles, was er getan hat, erscheint mir etwas manisch. Mich interessiert, was er für ein Mensch gewesen ist.“
In „Ein Kapitel für sich“ kann Tobias Dürr übrigens zeigen, was für ein glänzender Tänzer er ist, wenn er einen fetzigen Jitterbug aufs Parkett legt. „Die Ausbildung auf der Stage School hat mir in Hinblick auf Tanz und Bewegung sehr geholfen. Zum Musical wollte ich allerdings nie. Wäre wohl auch nichts geworden, in den Gesangsprüfungen bin ich immer durchgefallen.“