Hamburg. Sewan Latchinian, neuer Künstlerischer Leiter an den Kammerspielen, steht am Sonntag dort das erste Mal als Schauspieler auf der Bühne.

An der Glastür zum Vorzimmer klebt unübersehbar das Plakat zur Komödie „Die Nervensäge“, im Büro des Intendanten unter dem Dach der Hamburger Kammerspiele wartet einer der beiden Hauptdarsteller: Sewan Latchinian. Er sitzt hat schon mal Probe auf dem Chefsessel. Ende Februar hatte Multi-Intendant Axel Schneider (Kammerspiele, Altonaer und Harburger Theater, Theater Haus im Park, Burgfestspiele Jagsthausen) Latchinian als neuen künstlerischen Leiter der Kammerspiele präsentiert. Am 1. August tritt er offiziell sein Amt an, Schneider will seinen Hauptsitz nach Altona verlegen und dann sein Büro Latchinian ganz überlassen.

Der Theatermacher hatte 2015 bundesweit Schlagzeilen gemacht, als er als Intendant des Volkstheaters Rostock fristlos entlassen worden war: Er hatte sich mit der Politik überworfen und die geplanten Einsparungen und Schließungen mit den Zerstörungen der Terrorgruppe IS verglichen. Im Dezember 2017 entschied der Bundesgerichtshof, dass die Kündigung Latchinians unwirksam war. Im vergangenen Dezember erhielt Latchinian dann von Schneider das Angebot für die Kammerspiele, am zweiten Advent nahm er es an. „Auch eine Art Ankunft“, wie Latchinian jetzt mit einem Lächeln sagt.

Hamburger Abendblatt: Was hat Sie gereizt, hier die künstlerische Leitung zu übernehmen?

Sewan Latchinian: Eigentlich fehlte auf meiner persönlichen Theater-Weltkugel nur noch der Kontinent Privattheater. Mich hat dieses Engagement, das ich hier in Hamburg vor allem während der Privattheatertage, aber auch als reisender Juror deutschlandweit erlebt habe, sehr beeindruckt. Dieser Elan, dieser Umgang mit Ressourcen, diese Leidenschaft der Privattheatermacher hat mich doch sehr geflasht. Genau auf den Punkt Theater machen – und das trotzdem mit gesellschaftlicher Relevanz und künstlerischer Ambitioniertheit zu verbinden.

Ist die Aufgabe für Sie nach der Entlassung am Volkstheater Rostock auch eine Chance zur Rehabilitierung?

Latchinian: Rehabilitiert bin ich schon, juristisch und kulturpolitisch. Ich bin ja ein leidenschaftlicher Theatermensch, der durch seine Haltung – wie sich herausgestellt hat – ungerechterweise ausgebremst worden ist und kurzzeitig im Aus saß. Da ist dann auch der Ruf beschädigt, selbst wenn man hundertmal recht bekommt – irgendetwas bleibt hängen. Axel Schneider war einer der wenigen Intendanten, die schon, bevor alles juristisch geklärt war, hundertprozentig zu mir gehalten haben. Das hat mich auch sehr für ihn eingenommen.

Was hat Sie während Ihrer turbulenten Zeit in Rostock denn am meisten geprägt?

Latchinian: Das ist ja ein Riesenhaus mit fast 300 Mitarbeitern, ein Vier-Sparten-Theater mit Oper, Orchester, Schauspiel und Tanztheater, noch dazu mit Kinder- und Jugendtheater. In meinem ersten Jahr sollte ich die Oper und den Chor sowie das Tanztheater abschaffen – ich habe mich geweigert. Danach hat man beschlossen: „Dann schaffen Sie ihr Schauspiel und das Tanztheater ab!“ Auch das habe ich verhindert. Obwohl ich einen Fünf-Jahres-Vertrag hatte, bin ich in den ersten zwei Spielzeiten dreimal entlassen worden – in gewisser Weise ein Guinness-Rekord. Das zeigte auch die Diffusität der Konzepte. Zum Glück hat Manuela Schwesig, als sie den krebskranken Erwin Sellering als Ministerpräsidentin abgelöst hat, sofort einen Paradigmenwechsel eingeleitet. Daran merkt man, dass es auch in der Demokratie an einzelnen Personen hängt, wie die Spielräume definiert werden. Sie hat sofort gesagt: Es wird keine Sparte geschlossen. Da war ich wohl der richtige Mann zur richtigen Zeit am falschen Ort, der dagegengehalten hat, auch wenn es mich so manche Schramme gekostet hat.

Sie und Axel Schneider sind über die Stadtgrenzen hinaus sehr engagierte Theatermacher – zwei Alphatiere! Wie soll die Arbeitsteilung konkret aussehen?

Latchinian: Wir sind beide selbstbewusste Theaterbesessene. Mir imponiert es sehr, dass Axel Schneider die Notwendigkeit erkannt haben muss, dass hier noch jemand fehlt an seiner Seite. Er ist zwar zufrieden, meint aber, die Kammerspiele können noch besser werden.

Kompetenz-Streitigkeiten ausgeschlossen?

Latchinian: Es hat bisher nicht den Ansatz eines Streits oder einer Profilneurose gegeben. Ich bin immer gern Teamplayer gewesen. Manchmal war ich aus Not ein bisschen Einzelkämpfer. Ich freue mich sehr auf die Zusammenarbeit mit Axel Schneider und unserer Chefdramaturgin Anja Del Caro. Und sie freut sich auf einen Gesprächspartner vor Ort. Axel kann wirklich nicht jeden Tag in seinen vier oder fünf Häusern gleichzeitig sein.

Bei Ihrer Präsentation wurde eine „punktuellen Neuausrichtung“ der Kammerspiele angekündigt. Wie und wann wird die sichtbar werden?

Latchinian: Ich kann erst mal in Spielplanlücken mit Inszenierungen Impulse setzen. Für den großen Saal überlegen wir, ob es nicht mal wieder Kammerspiel-Klassiker wie Goethes „Stella“ oder auch modernere Klassiker wie „Virginia Woolf“ oder eine Operette geben kann. Das Zeitgenössische will ich unbedingt beibehalten, aber ich will auch schauen: Was sind moderne Kammerspiele im Jahr 2019, dazu gehören auch die Wurzeln. Vielleicht ist der Logensaal noch flexibler nutzbar.

Wie kam es zu Ihrem zusätzlichem Schauspiel-Engagement für „Die Nervensäge“?

Latchinian: Das kam sehr kurzfristig, einen Monat vor Probenbeginn als Ersatz für einen anderen Kollegen. Und ein Tag vor der ersten Probe wurden dann gleich die Plakatmotive fotografiert.

Ist ihr Auftritt als Profikiller Ralph im neuen Stück nicht auch ein Risiko?

Latchinian: Die Zusatzaufgabe ist mir auch taktisch recht: Es ist zwar immer ein Risiko, als Chef beweisen zu müssen, ob man es denn auch als Schauspieler und Regisseur kann. Der Reiz ist aber, von der Pike auf hier an den Kammerspielen anzufangen und mich so vorzustellen und so den Arbeitsalltag sehr konkret kennenzulernen. Ich war immer gern ein Theaterleiter zum Anfassen. Und für das Publikum ist es die beste Möglichkeit, jemanden auch auf der Bühne kennenzulernen und nicht nur durch kluge Statements in Spielzeitheften. Und da die Spezies der spielenden und inszenierenden Theaterleiter langsam ausstirbt, versuche ich diesen Berufsstand weiter am Leben zu halten. Und das ist sicher in Hamburg besonders spannend.