Hamburg. . Erzählungen und Dialoge, die Funken schlagen: Das Drama von Lutz Hübner und Sarah Nemitz hatte Premiere im Thalia Gaußstraße.
„Schön haben Sie es hier“, singt Heiko Braubach zu Pianoklängen im „Girl From Ipanema“-Rhythmus. Mehr Ironie geht kaum. Auf der Bühne des Thalia in der Gaußstraße sieht man graue Wandplatten, einen Wäscheständer, eine in der Waschmaschine rotierende Gelbweste. Traurige Welt.
Es ist die Welt von Altenpflegerin Nele, deren Sohn Enno gelähmt in einer Unfallklinik liegt – ein Zusammenprall ausgerechnet mit dem Wagen des Bürgermeister-Kandidaten Braubach ist schuld. Jetzt steht der Politiker, gebräunt und wie aus dem Ei gepellt, in ihrer bescheidenen Behausung und drängt seine Hilfe auf.
Hat der Politiker einen tragischen Unfall verursacht?
Das Stück „Furor“ von Lutz Hübner und Sarah Nemitz als Sozialdrama Grau in Grau zu erzählen genügt dem jungen Regisseur und ehemaligen Thalia-Regieassistenten Helge Schmidt nicht. Schmidt, der am Lichthof Theater mit seinem Theaterprojekt „Cum-Ex Papers“ den Hit der Saison landete und soeben zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen wurde, ist ein junger Regisseur, der viel will. Manchmal will er auch zu viel, aber das ist legitim. Und mit „Furor“ beweist er, dass er nicht nur aus dokumentarisch angelegten Projekten, sondern auch aus Erzählungen und Dialogen szenische Funken schlagen kann.
Bevor das Stück eigentlich beginnt, müssen Victoria Trauttmansdorff als Nele Siebold und Tim Porath als Heiko Braubach jedenfalls erst mal musicaltauglich singen – das können sie ziemlich gut. Der anschließende Verlegenheits-Small-Talk schlägt schnell in Ernst um. Nele arbeitet zehn Stunden am Tag, „sonst reicht’s nicht“. Der Unfall des Sohnes bringt die ohnehin nicht auf Rosen Gebettete an ihre Grenzen. Toll, wie Trauttmansdorff gänzlich unsentimental in jeder Szene eine neue Spielweise auflegt, mal aufrechte, stolze Arbeiterin, mal kämpferisches Muttertier.
Verschwörungstheorien machen sich breit
Aus dem aalglatten Braubach schreit laut das schlechte Gewissen. Und bald wird deutlich, warum. Neles Neffe Jerome, leicht überambitioniert gespielt von Steffen Siegmund, ein frustrierter Paketbote, hat im Internet schon Verschwörungstheorien von einer Alkoholfahrt des Politikers und möglicher Schuldvertuschung gelesen. Mit denen konfrontiert er den Bürgermeister-Anwärter und ruft immer wieder: „Erst die Revolution! Dann das Geld!“ Doch Braubach lacht nur. Ein seltsam unmotiviertes Lachen ist es, das ihn da minutenlang am Wäscheständer schüttelt und in das die todtraurige Nele einstimmt.
Die Inszenierung hält mehrere dieser Momente bereit, die das Stück aus seinem Naturalismus befreien. Manche ließen sich normalerweise als technische Anschlussfehler einordnen, aber hier sind sie Kunstgriffe, die dem sonst sehr geradeaus erzählten Abend guttun.
Am Ende quillt Schaum aus einer Waschmaschine
Seine Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit kauft Jerome dem ehrgeizigen Politiker jedenfalls nicht ab. „Wir gehen Ihnen am Arsch vorbei“, befindet er. Kein Mensch glaube mehr der Politik. „Weil alle eine Scheißwut auf euch haben, weil ihr das Land verkauft und nicht für eure Leute sorgt.“ Jeromes Streben nach Gerechtigkeit kollidiert schnell damit, dass er mit seinen neuen rechten Verschwörungstheorien und seinem dumpfen Elitenhass nur wenig Sympathiepunkte sammelt. Die Autoren Lutz Hübner und Sarah Nemitz lassen in „Furor“ zwei Welten aufeinanderprallen, die in sich so abgeschlossen sind, dass eine Verständigung nicht mehr möglich ist. Es geht um Oben gegen Unten, um die Gewinner und Verlierer der Globalisierung.
Braubach hat längst vergessen, dass auch er einst als Paketbote jobbte und sich erst über den zweiten Bildungsweg hochdiente. Die lautstarke Auseinandersetzung zwischen Jerome und ihm spiegelt auch den Zustand der aktuellen Gesprächskultur wider. Wenn Jerome unreflektiert Hasstiraden, Behauptungen, Vermutungen und Verschwörungstheorien rauslässt, reagiert der Politiker mit Ignoranz, Abwehr, Häme.
Beide seifen sich mit Worten mächtig ein, und das ist zwar einerseits eine Freude, weil es den Schauspielern viel Raum für befreites Spiel lässt, aber inhaltlich dreht sich die Diskussion im Kreis. Wie gut, dass Helge Schmidt mit einem tollen Regieeinfall punktet und den Schaum der Waschmaschine, die Bühnenbildnerin Lani Tran-Duc auf die Bühne gewuchtet hat, überquellen und die Akteure herrlich ausgleiten lässt.
Die Schaummassen stehen geradezu symbolhaft dafür, wie sehr man sich manchmal nach einer Reinigung von all dem Hass und dem Lärm sehnt. Leider funktioniert das nur im Theater, in dieser Inszenierung sogar ziemlich gut.