Hamburg . Die “Lange Nacht junger Literatur und Musik“: Viel Beifall im ausverkauftem Haus, für Nino Haratischwili und viele andere.

Die Schlange am Eingang zum Bunker an der Feldstraße reicht bis weit hinaus auf den Parkplatz. Einige Hundert Literaturbegeisterte warten auf den Einlass zur Ham.Lit. Zum zehnten Mal läuft die „Lange Nacht junger Literatur und Musik“ im Uebel & Gefährlich und wieder einmal ist sie ausverkauft.

Oberschülerinnen und Senioren-Pärchen, elegant gekleidete Frauen und zottelige Spät-Hippies drängen sich gemeinsam in den Fahrstuhl, um in den vierten Stock zu fahren. „Ist das hier das Turmzimmer?“, fragt ein älterer Mann, der offensichtlich noch nie im Ue&G mit seinem großen Ballsaal gewesen ist. Freundlich erklärt ihm eine junge Frau den verschlungenen Weg in den kleineren Eck-Club.

Es startet im Ballsaal

Aber los geht es zuerst nur im Ballsaal, wo Saša Stanišić, der vielleicht bekannteste Schriftsteller im diesjährigen Programm, die Ham.Lit eröffnet. Stanišićs Prominenz entspricht der Enge im großen Saal, jeder will ihn hören. Erst eine halbe Stunde später beginnen die Lesungen im Turmzimmer und im Terrace Hill. Stanišić liest aus einem neuen autobiografischen Buch, das den Titel „Herkunft“ tragen und in knapp einem Monat erscheinen wird. „Ich bekomme morgen noch mal die Druckfahnen. Wenn jemand zum Text noch eine Anmerkung hat, können wir später darüber sprechen“, sagt der aus Bosnien stammende Autor gut gelaunt.

Das rollende „R“ verweist auf seine Geburt auf dem Balkan, und in dem Textauszug geht es darum, einen Lebenslauf für die hiesigen Behörden zu schreiben, um einen deutschen Pass zu bekommen.

Das ist jedoch nur der Ausgangspunkt für weitere Erinnerungen des in Hamburg lebenden Künstlers: Ein Nudelholz, sein Verhältnis zu Teigwaren, ein Malkurs und die Begegnungen mit einer rothaarigen Mitschülerin namens Rieke spielen ebenfalls eine wichtige Rolle in diesem selbstironischen Text. Neun Schriftstellerinnen und sechs Schriftsteller haben die beiden Organisatoren Lucy Fricke und Daniel Beskos eingeladen, dazu kommen noch der Rapper Amewu sowie die Popkünstler Dorit Jacobs und Theodor Shitstorm.

Große Vielfalt zeitgenössischer Literatur

Einen roten Faden gibt es bei diesem langen Abend nicht, er zeigt vielmehr die große Vielfalt zeitgenössischer Literatur in Deutschland. Debütanten wie Lukas Rietzschel und Bettina Wilpert gehören genauso zum Line-up wie Inger-Maria Mahlke, Buchpreis-Trägerin 2018, oder die preisgekrönte deutsch-georgische Autorin Nino Haratischwili. „Wie schön ist es, in Hamburg zu lesen! Ich bin zu Fuß hierher gelaufen“, begrüßt die in Tiflis geborene Erzählerin das Publikum im vollen Ballsaal.

Selbst auf den Stufen und auf dem Boden sitzen Besucher, die Haratischwilis Familiengeschichten lauschen wollen. Sie hat zwei Abschnitte aus „Die Katze und der General“ vorbereitet, in denen es nicht um den Tschetschenien-Krieg, sondern um Nebenfiguren ihres 750-seitigen Romans geht. Sie beschreibt darin sehr pointiert ein paar Exil-Georgier, die sich in Berlin-Wedding im Salon der Überlebenskünstlerin Tina versammeln. Haratischwili spricht von „der zweigeteilten Biografie“ dieser Figuren, die sich nach ihrer Heimat zurücksehnen, weil sie in Deutschland noch nicht integriert sind und wegen ihres Akzents oder ihrer Kleidung auffallen.

"Einvernehmlicher Sex" von und mit Dagrun Hintze

Konzentriert verfolgen die Zuhörer die 20 bis 25 Minuten langen Lesungen. Wer seinen Platz verlässt, um sich rechtzeitig einen Sitz an einem der anderen Orte zu suchen, tappt wie auf Katzenpfoten zum Ausgang. Wenig sensibel räumt allerdings das Tresenpersonal die Kühlschränke mit Bierflaschen voll; so als würde ein 100 Dezibel lautes Konzert stattfinden. Ab und zu kippt unter den Sitzen auch laut klirrend eine leere Bierflasche um, aber niemand der Lesenden lässt sich davon aus der Fassung bringen. Irgendwie gehört das zum Sound der Ham.Lit dazu. Ein Club ist in Sachen Ambiente eben etwas anderes als ein Literaturhaus.

Musik ist bei der Ham.Lit von Beginn an ein Element gewesen. In diesem Jahr bekommt der Berliner Rapper Amewu die große Bühne. Er gehört zu den besten deutschen Freestylern und überzeugt mit schnell abgefeuerten Reimen, durchweg mit politischem Inhalt. Beinahe hätte Amewu wegen einer Grippe absagen müssen, doch seine „Ibuprofen-Show“, wie er es nennt, funktioniert. Gedichte, wenn auch ohne Reime, präsentiert Dagrun Hintze im Turmzimmer. „Einvernehmlicher Sex“ heißt der schmale Band der in Hamburg lebenden Poetin. In ihren Texten beschreibt sie Kneipenerlebnisse („Pinguinschlag“, „Dieze Köpi“), erinnert sich an Reisebegebenheiten („Kakerlaken“) und vergangene Lieben („Love Is The Drug“, „Staffelholzübergabe“), „Kein Gepäck“ ist ein bitteres Abschiedsgedicht.

Für ihren sprachwitzigen Vortrag erhält Hintze, die vor zwei Jahren einen Essayband über Fußball geschrieben hat, sehr viel Beifall. Genau wie Thomas Klupp, der aus seinem Jugendroman „Wie ich fälschte, log und Gutes tat“ vorträgt. Klupps Beschreibung einer Chefarztfamilie in der Provinz ist von großer Komik. Hinter der heilen bürgerlichen Fassade verbergen sich Abgründe und ein Teufelskreis aus Lügen. Klupp setzt eine Pointe nach der anderen. Kein Wunder, dass sein Roman am Büchertisch später besonders gefragt ist.