Hamburg. Die litauische Dirigentin verzückt mit der unwiderstehlichen Klarheit ihrer Gesten. Am Ende sind selbst die Musiker verdutzt.
Das Dirigieren kann so einfach sein, kinderleicht geradezu. Es genügt dabei völlig, in jedem Moment millimetergenau zu wissen, wo alles ist und warum und wo alle sind. Wohin und wie sich alles bewegen soll und wie man dort hinkommt und es so klingt, wie man es möchte. Das kann je nach Vorliebe mit Taktstock passieren oder auch ohne, denn an jeder regulären Hand sind fünf Versionen vorhanden. Sind diese Dinge grundsätzlich geklärt, kann man tatsächlich enormes Vergnügen an der federleichten Schwerarbeit haben. Beneidenswert, falls es so weit kommt.
Blöd nur, dass diese Fähigkeit nur sehr wenigen Taktstockverwaltungspersönlichkeiten in jenem Ausmaß gegeben ist, das der Litauerin Mirga Gražinytė-Tyla (MGT) zur Verfügung steht. Sie verkörpert ihre Musikalität (und erst recht ihre Autorität) mit einer derart unzweideutigen und unwiderstehlichen Klarheit in ihren Gesten, Bitten und Angeboten, dass ein Orchester sich schon sehr anstrengen müsste, um unter ihrer Leitung nicht penibel zu liefern, was in seinen Noten steht – und wie es gedacht ist.
Erste Dirigentin bei Grammophon unter Vertrag
Und weil diese Dirigentin bereits jetzt, mit Anfang 30 so brillant ist, wie sie gerade ist, ist sie der Nachwuchstalent-Schublade flott entwachsen. Den Chefin-Vertrag in Birmingham, wo schon Rattle und Nelsons im Eiltempo von Talenten zu Stars reiften, hat Mirga – der Vorname ist Markenzeichen, kürzlich verlängert; sie ist vor wenigen Monaten Mutter geworden und bekam nun von der Deutschen Grammophon als überfällige erste Dirigentin im Sortiment einen Plattenvertrag. Die erste Einspielung mit ihrem Orchester aus Birmingham ist für Mai angekündigt, Musik von Mieczysław Weinberg, gemeinsam mit dem Geiger Gidon Kremer, der sich seit langem vehement für dessen Musik einsetzt, und seiner Kremerata Baltica.
Läuft rasant rund, alles in allem. Und es lief, wenig überraschend und enorm erfreulich, auch bestens am Freitag, beim ersten der beiden Konzerte, die MGT mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester im Großen Saal gab. Schon das Programm ihres NDR-Debüts betonte klug, was sie beibringen wollte und was nicht.
Also: keine Allerwelts-Ouvertüre zum beschaulichen miteinander Warmwerden, sondern ein smartes Plädoyer für die höchstbegabte, früh verstorbene Lili Boulanger: „D’un matin de printemps“, deren letztes Werk, in stilistischer Nähe zu Debussy und ihrem Kompositionslehrer Fauré und mit einem Schuss klassizistisch erhabener Respighi-Vorahnung, formte MGT zu einem klar konturierten Genuss. Es entstand das Bild eines Idylls aus dem frühen 20. Jahrhundert, in dem die zartbitteren Zwischentöne und der Reiz des Eigenwilligen immer wieder dezent durchschimmerten. Und man roch förmlich die warme Sommerluft zwischen den Noten.
NDR Elbphilharmonie Orchester höchst motiviert
Bereits hier, in den ersten fünf Minuten des sich bravourös steigernden Abends, reagierte das NDR-Orchester höchst motiviert und elegant auf MGTs Möchten und Wollen. Als ausgleichende Gerechtigkeit zur möglichen Erwartung folgte ein eher struppig widerspenstiger Vertreter der Publikumsliebling-Gattung Klavierkonzert, das Fünfte von Prokofiew, ein Sonderling, der ständig wilde Haken schlägt und von einer Irre in die nächste führt.
Und nun mit einem Solisten zu erleben, dem Gefälligkeiten hier ebenso konsequent unwichtig waren wie der Dirigentin. Fünf Sätze, also zwei mehr als normal, dafür aber deutlich weniger auf vermittelnde Harmonie zwischen Virtuose und Begleitung bedacht als üblich. Das Gegen- und das Miteinander sorgten für packende Spannung, MGTs Vergnügen an dieser Kollektiv-Herausforderung spornte das Orchester energisch an.
Denis Kozhukhin war für diesen Solo-Part eine bestechend richtige Wahl. Die pianistischen Herausforderungen schienen den Russen nicht im Geringsten zu kümmern; die harsche Brillanz des Kopfsatzes gestaltete er mit lakonischer Präzision, den verschrobenen, verwinkelten Toccata-Satz setzte er kontraststark vom unvermutet verträumt beginnenden Larghetto ab. Kozhukhin spielte das alles lässig weg, mit dieser angenehmen, geschmeidig auftrumpfenden Gelassenheit, die sich erst einstellt, wenn man nichts mehr beweisen möchte. Er konnte aber auch mühelos Druck und Betriebstemperatur steigern, um ins Finale hineinzustürmen.
Gražinytė-Tylabringt brilliert bei Strawinskys "Feuervogel"
Die Klangfarbenpalette, mit der MGT vor der Pause bei Boulanger die kleinere Landschafts-Skizze angefertigt hatte, wurde nach der Pause spektakulär vergrößert. Strawinskys „Feuervogel“, eines jener Angststücke aus der klassischen Moderne, in denen sich nicht wenige Dirigenten schnell und dann aber fast unrettbar verirren, weil hinter nahezu jedem Taktstrich eine andere perfide Idee lauert. Bei MGT jedoch war vom Anfang an, schon mit dieser unbestimmt dräuenden Bassmelodie klar: ready for liftoff. Der Vogel wird abheben, steil und schnell.
Das NDR-Orchester, so schien es, war angenehm verdutzt über sich selbst und über das, was offensichtlich ohne Reibungsverluste möglich war. Die schönste Wegweisung, mit der MGT aufwartete, war diese dimmende Luftstreichelbewegung, die rund 100 Instrumente gehorsamst leiser werden ließ. Komponiert wurde der „Feuervogel“ als Ballettmusik, an diesem Abend präsentierten MGTs Hände das Stück als Musik-Ballett. Und die schönste Erkenntnis, die dieses NDR-Konzert mit einer außerordentlichen Gastdirigentin in der Elbphilharmonie letztlich mit sich brachte: Es ginge. So vieles ginge.