Hamburg. Beim Konzert des Tenors verließen mehrfach Menschen den Saal, dazu kamen Zwischenrufe wie “Hier hört man auch nichts!“.
„Künstlerpech…“: Das seufzt sich noch leicht, wenn man es nur miterlebt, und ist für den, den es trifft, doch so schwer auszuhalten. Was Jonas Kaufmann, dem ansonsten unerschütterlich charmant wirkenden Publikumsliebling, widerfuhr und ihn beinahe wutschnaubend in die Garderobe der Elbphilharmonie trieb, benötigt größeren Erklärungsanlauf. Die Sachlage ist komplex, eine schnelle Lösung wohl nicht zu haben.
Bei einem Liederabend im Februar hatte er im Großen Saal der Elbphilharmonie Wolfs „Italienisches Liederbuch“ mit Diana Damrau gesungen, es war ein herausfordernder Abend gewesen, der viele kammermusikalische Zwischentöne verdiente und einforderte.
Nun aber sollte es dort so ziemlich das genaue Gegenteil sein: Mahlers „Lied von der Erde“, sechs Lieder genauer genommen, auf tiefgründelnder altchinesischer Poesie basierend, mit sehr großer Orchesterbegleitung. Später, lebenswunder Mahler eben, und deswegen oft so zerbrechlich wie eine schwere Ming-Vase beim allzu forschen Jonglieren.
Kaufmanns sportiver Ansatz
Andere Tenöre wären schon mit den drei für ihre Stimme geschriebenen Liedern voll ausgelastet. Kaufmann aber wollte (sich), wie bei seiner CD-Einspielung mit den Wiener Philharmonikern, auch die anderen, für Alt beziehungsweise Bariton entworfenen Teile leisten. Weil seine Stimme im Laufe der letzten Jahre mehr und mehr eindunkelte, kann man verstehen, warum ihn die Aufgabe reizte, sich in der unmittelbaren, tiefer gelegenen Repertoire-Nachbarschaft umzutun.
Ein sehr sportiver Ansatz jedenfalls, diese Zwei-Solisten-auf-einmal-Idee, kein ganz unproblematischer; wegen der Anforderungen bei einer Aufführung im Konzertsaal, aber ebenso wegen der fehlenden Kontrastwirkung zweier sich ergänzender, ablösender Stimmen und den entsprechenden Klangfarbschattierungen.
Und die Feinabstimmung auf Mahlers Intarsienarbeiten über Sein und Vergehen, die sich zum Ende ins Weltverlorene steigern, ist dabei noch gar nicht eingerechnet. Andererseits ist Kaufmann auch kein tumber Wald-und-Wiesen-Tenor, der alles wegsingt, was nicht bei Drei im Notenregal ist. Er hat, wenn es ernst wird, dringlich und dunkel, die gereifte Auffassungsgabe und Durchdringungstiefe, um Mahlers Seelenschmerzen und Sehnsuchts-Seufzer mit der notwendigen Mischung aus galliger Bitterkeit und herber Süße zu positionieren.
Rumoren im Zuschauerraum: "Hier hört man auch nichts"
Doch das eigentliche Problem dieses stellenweise tragisch verunfallten Konzerts hatte nicht nur einen Grund, und es hatte mehrere Mitschuldige. Viele „Ausgerechnet…“-Aspekte sorgten in ihrer misslichen Bündelung dafür, dass Kaufmann – mitten im Mahler und zu Recht – fast der Frackhemd-Kragen geplatzt wäre.
Denn mehrfach, und am liebsten bei leisen Stellen, verließen Zuhörer – bestens hörbar und sichtbar sowieso – ihre Plätze. Andere spazierten aus seitlichen oder hinteren Bereichen weiter nach vorn – oder gleich ganz hinab, zu einzelnen frei gebliebenen Plätzen ins Parkett.
Als andere deswegen zwischen zwei Mahler-Abschnitten halblaut Unmut äußerten, kamen lautere Rufe mit dem Tenor „Hier hört man auch nichts…!“ aus dem Saal-Bereich hinter dem Orchester zurück. Von dort also, wo der mehrfach geforderte Tenor Kaufmann einzig von hinten zu hören war; von dort aus hinter einem Tutti singend, das ihm im Saal die tönend schwingende Luft zum Wirken nahm.
Ein zu forsch aufspielendes Orchester
Denn ausgerechnet dieses an sich solide Wertarbeiter-Orchester, das Sinfonieorchester aus Basel – der Heimatstadt der Elbphilharmonie-Architekten Herzog & de Meuron – brauchte bei dem Auswärts-„Heimspiel“ einige Zeit, um Stolz und Freude über gerade diese Tournee-Station zu bändigen.
Bei ihrer Ouvertüre zum fernöstlichen Kaufmann, Berios schillernder Schubert-Fragmente-Bearbeitung „Rendering“, waren sie noch ganz mit sich im Idyll gewesen. Die Bläser-Solisten genossen die Show, die Reibung zwischen den originalen Schubert-Portionen und den originellen Berio-Momenten funktionierte.
Doch die Schweizer wollten oder konnten zunächst kaum glauben, dass man in diesem Saal die mächtigeren Mahler-Begleit-Passagen gefahrlos leiser spielen kann, nein: muss. Und ihr Gastdirigent Jochen Rieder, als Kaufmanns Maestro für so ziemlich alle Fälle bekannt, bekam diese Unwucht ausgerechnet hier langsamer als dringendst notwendig in den Griff.
Und so kam es dazu, dass schon im Bereich vor dem Orchester zunächst nur mühsam zu erkennen war, wie viel Mühe und Detailsorgfalt Kaufmann in seine Klagelieder über das Werden und das Gewesene zu legen versuchte.
Das Nachsehen hatte Mahler – und der größte Teil des Publikums
Ähnlich wie erst vor wenigen Tagen die Wagner-Sopranistin Nina Stemme in einem von vielen guten Göttern verlassenen „Götterdämmerung“-Potpourri mit dem NDR-Orchester, stand nun auch Kaufmann vor oder besser: mitten in einem Problem, für das er (abgesehen von der selbstgewählten Doppelrolle) nichts konnte. Das Nachsehen hatte in diesen Momenten Mahlers Musik – und der weitaus größere Teil des Publikums, das miterleben musste, wie ein Konzertabend zwischenzeitlich dramatisch ins Straucheln geriet.
Um so erstaunlicher und erfreulicher, dass Kaufmann dennoch das Finale mit leiser Eindringlichkeit bis hin zum letzten „Ewig, ewig“ zu jenem Erlebnis machte, das der ganze Abend, ungestört und ungetrübt, hätte sein sollen.