Hamburg. Der Cellist spielte Werke von Johann Sebastian Bach. Nach dem umstrittenen Auftritt von Jonas Kaufmann ein großes Konzerterlebnis.
Drei Tage nach dem umstrittenen Auftritt von Jonas Kaufmann und den anschließenden Diskussionen saß man schon etwas bang in der Elbphilharmonie. Geht das heute gut? Sind alle zufrieden mit dem, was und von wo sie hören? Oder gibt es wieder Proteste? Das hätte die Stimmung bei so empfindlichen und nackten Werken wie den Suiten für Cello solo von Johann Sebastian Bach ziemlich sicher gekillt.
Aber die Sorge war unberechtigt. Keine Beschwerden, keine Empörung. Sondern einfach ein großes Konzerterlebnis, wie man es von den allermeisten Besuchen in der Elbphilharmonie gewohnt ist.
Musik, Akustik, Saal und Zuhörer fanden zu einem intensiven Zusammenspiel. Und das lag vor allem am Interpreten. Mischa Maisky zog das Publikum unwiderstehlich in den Sog von Bachs Meisterwerken hinein. Der lettische Starcellist, seit vergangener Woche 71 Jahre jung, denkt offensichtlich gar nicht daran, älter zu werden. Stattdessen verströmt der Musiker mit der silbernen Mähne eine jugendliche Energie und Leidenschaft, wenn er sein Instrument beackert, mit Herz und Glut und unbändiger Kraft.
Mischa Maisky ist und bleibt ein Erzromantiker
Ausdruck, Ausdruck und noch mehr Ausdruck: Das ist Maiskys Musiziermotto, auch bei den sechs Solosuiten von Bach, die er schon seit sechs Jahrzehnten kennt und liebt und immer wieder spielt, in Hamburg auf zwei Abende verteilt. In dieser Zeit hat er eine ganz eigene Auffassung der Werke entwickelt, denkbar weit entfernt von dem, was die historische Aufführungspraxis derzeit womöglich als stilistisch angemessen empfiehlt.
Maisky ist und bleibt ein Erzromantiker, er streicht gern mit sattem Vibrato und vielen Freiheiten im Tempo. Das zeigt er schon im Präludium der G-Dur-Suite zu Beginn. Im hellen Spotlight, das ihn auf einem Holzpodest in der Mitte der Bühne anstrahlt und im abgedunkelten Saal illuminiert, leuchtet auch sein Klang. Er nimmt sich Zeit, den Fluss der Musik zu unterbrechen, um einzelne Töne hervorzuheben, um schmerzliche Reibungen oder die Wärme und das Volumen seiner tiefen C-Saite auszukosten – und dann drängt er im nächsten Moment stürmisch voran, wie in der Courante, mit ihren rasenden Sechzehntelfiguren, die sich gegenseitig zu jagen scheinen.
Johann Sebastian Bach greift in den Cellosuiten barocke Tanzformen auf und veredelt sie mit kunstvollen motivischen Fortspinnungen und emotionaler Dichte. Maisky spürt ihren Charakteren nach und dringt dabei in die Tiefenschichten der Sätze vor. Im zweiten Menuett aus der G-Dur-Suite entdeckt er unter der höfischen Eleganz eine ungeahnte Melancholie, wenn sich der Satz plötzlich nach Moll wendet; im majestätischen Schreiten der Sarabande aus der Es-Dur-Suite offenbart er deren zerbrechliche Schönheit und Intimität. Schade, dass ausgerechnet hier eine heftige und lang anhaltende Hustenattacke aus dem Publikum stört. Aber Mischa Maisky lässt sich nicht rausbringen.
Akustik des Großen Saals transportiert Klänge sehr direkt
Mit beeindruckender Stringenz formt und phrasiert er die Linien, eine klare Vorstellung weist Händen und Fingern ihren Weg auf dem Griffbrett. Auch wenn nicht jeder Ton hundertprozentig intonationsrein sitzt und am Ende der ersten Hälfte Konditionsreserven angezapft werden, bleibt der Cellist seiner Linie treu. Perfektion ist nicht das oberste Gebot, er will die Expressivität der Musik ergründen und die Hörer berühren.
Das gelingt ihm auch nach der Pause, mit der Suite in c-Moll, deren raue Dissonanzen Maisky dunkel in die Saiten bohrt. Hier passt seine romantische Lesart wie gemalt.
Die Akustik des Großen Saals transportiert die Klänge sehr direkt. Sie bildet alle Nuancen in Farbe und Dynamik plastisch ab, aber auch die Spielgeräusche, die beim Streichen und beim Greifen der Töne entstehen. Durch dieses physische Moment wirkt die Musik besonders nahbar, das verfehlt seine Wirkung nicht. Zugleich hat der Sound aber auch – zumindest mit diesem Instrument, in genau dieser Position – jenen natürlichen Nachhall, der schon die Geigerin Anne-Sophie Mutter dazu veranlasst hatte, von der Akustik der Elbphilharmonie zu schwärmen und sie mit der Aura eines Kirchenraums zu vergleichen.
Mischa Maisky fesselt das Publikum mit seiner Intensität
Maisky fühlt sich spürbar wohl in dieser Umgebung. Er fesselt mit seiner Intensität; das Publikum lauscht weitgehend hochkonzentriert und respektiert auch die Pausen zwischen den Sätzen als Momente der Stille, selbst als sie im zweiten Teil einen Tick länger werden, weil der Cellist sich kurz den Schweiß vom Gesicht wischen muss. Gemessen an der Jahreszeit, ist sogar der Hustenpegel vergleichsweise niedrig.
Auch das ein Beleg für die Suggestionskraft der Musik und des Interpreten. Ein packender Abend mit einem Mischa Maisky in Bestform – und eine erfreuliche Rückkehr zur Normalität der erstklassigen Konzerterlebnisse, an die wir uns in diesem Saal so gern gewöhnt haben.