Hamburg . Das virtuose Spiel der Vivaldi-Konzerte von Nicolas Altstaedt klang so spontan, als wäre ihm die Musik eben erst eingegeben worden.
Man muss sich den NDR als eine Art Ozeandampfer vorstellen. Funk, Fernsehen, Veranstaltungen, alles hat seine Aufgabe, alles greift ineinander wie Zahnrädchen, ¬damit der Dampfer Kurs behält. ¬Irgendwo in dieser Riesenmaschinerie sitzt die Abteilung Klangkörper, säuberlich verwaltet, da wird nichts dem Zufall überlassen. Schon gar nicht die Geschicke des NDR Elbphilharmonie Orchesters. Über sieben Jahrzehnte stetig gewachsener und gehegter musikalischer Qualität blicken auf uns ¬herab, wenn das Orchester auftritt.
Und dann kommt da einer und erteilt jeder Berechenbarkeit eine fulminante Absage. Der Cellist Nicolas Altstaedt, in dieser Saison Artist in Residence, ist das fleischgewordene Gegenteil alles Gediegenen. Im Verein mit der Originalklang-Auswahl des Orchesters, NDR Barock nennen sie sich bündig, ist er jetzt im Kleinen Saal der Elbphilharmonie auf eine Reise zur Wiege der konzertanten Cellomusik gegangen: nach Italien, wohin auch sonst.
Kaum vorzustellen, dass das noble Instrument, Star von Allzeithits wie Saint-Saëns’ „Schwan“ und einem Haufen romantischer Solokonzerte, sich Ende des 17. Jahrhunderts von seiner Rolle als reinem Bassinstrument und Mitglied der barocken Rhythmusgruppe namens Basso continuo erst etablieren musste. Entscheidend dazu beigetragen hat der geniale Antonio Vivaldi. Er stand denn auch im Mittelpunkt des Programms.
Altstaedt kümmerte sich nicht um Maß oder abgezirkelte Perfektion
Den Vorhang zogen die Musiker – noch ohne ihren Spiritus Rector – mit der Ouvertüre zur Oper „L’Olimpiade“ auf. Das war ein Vivaldi, wie man ihn kennt und liebt, rasant und spritzig. Das Ensemble langte kräftig zu, betonte die Helldunkelkontraste und ließ die Bässe wummern. Das kam lustvoll herüber und bisweilen ein ganz bisschen grob, und die Tongebung verriet, dass NDR Barock eben keine Vollzeit-Originalklangtruppe ist. Doch die Energie war schlicht ansteckend, und das Musikantische war eine schöne Visitenkarte für das, was noch folgen sollte.
Altstaedt kümmerte sich nämlich ebensowenig um Maß oder abgezirkelte Perfektion. Sein grenzenlos virtuoses Spiel klang so spontan, als wäre ihm die Musik eben erst eingegeben worden. Für die vielen aberwitzigen Verzierungen traf das vermutlich auch zu. Kein Triller, kein Lauf quer übers Griffbrett, den Altstaedt in den beiden „Concerti“ von Vivaldi nicht noch untergebracht hätte. Das Ganze klang einfach nach sprühendem Vergnügen und so aus dem Ärmel geschüttelt, wie man es auch Vivaldis Notenmanuskripten bisweilen ansieht.
Die Ideen müssen den Komponisten beim Schreiben förmlich gejagt haben. Komponieren war damals Fließbandarbeit; mit unserer vom romantischen Künstlerideal geprägten Vorstellung hatte es nichts zu tun. Zeit war Geld, ständig mussten neue Stücke her, um den gierigen Markt zu bedienen. Die Musik ist Vivaldi offenbar einfach zugeflogen, noch unter den widrigsten Umständen. Sogar Wunderwerke wie die stille, ergreifende Sinfonia „Al Santo Sepolcro“, die mit ihren Tonflächen und sich unaufhörlich reibenden Dissonanzen in ungeahnte Tiefen lotete und einen ganz anderen Vivaldi zeigte als den gutgelaunten Notenjongleur.
In den Prestissimo-Sequenzen gingen ihm die Pferde durch
Sogar drei Kammermusikwerke hatten noch Platz in diesem üppigen Programm. Ungewöhnlich die „Sinfonia“ für Cello und Basso continuo von einem Giovanni Battista Costanzi. Da tat es der Interpret dem Komponisten nach und erforschte die Möglichkeiten des Instruments bis in Gegenden, die im 18. Jahrhundert noch weitgehend unbekannt waren, wie etwa Flageoletts. Das sind jene fahlen Klänge, deren Tonhöhe sich himmelwärts zu katapultieren scheint. Mitunter winkte in den gutgelaunten Pirouetten schon Costanzis Schüler Boccherini um die Ecke. Den kennt man ja nun wirklich, mindestens von dem Filmklassiker „Ladykillers“.
Begleitet wurden die Streicher mit Charme, hinreißendem Zeitgespür und klanglicher Delikatesse von Isolde Kittel-Zerer am Cembalo und Michael Freimuth mal an der Barockgitarre und mal an der Theorbe, diesem Wunderinstrument, das mit einem einzigen seiner tiefen Töne den ganzen kulturellen Resonanzraum des Mittelmeers ¬beschwören kann.
Ganz einfach kann es nicht gewesen sein, Altstaedt durch jede Regung zu folgen – die Freiheit des Metrums, die er sich nahm, war im schönsten Sinne unberechenbar. Obendrein gingen ihm in den Prestissimo-Sequenzen schon mal die Pferde durch, so dass das Ganze immer noch schneller wurde. Und wenn mal ein Ton danebenging? Egal.
Das war doch das Wesentliche an diesem Abend, wie radikal der Künstler sich in den Dienst der musikalischen Botschaft stellte. Ohne Risiko bleibt Kunst Kunsthandwerk. Das sollten wir nicht vergessen.