Hamburg. Bei der Eröffnung des Filmfests erinnert der Auftakt-Film an langes Unrecht. Festival-Chef erhält Ehrung für eine besondere Lebensleistung.
Große Freiheit! Zum Auftakt des Filmfest Hamburg, das sich als politisch begreift und mit seinem Programm, seinen internationalen Gästen und nicht zuletzt: mit seinem auch menschlich engagierten Direktor zwar immer wieder für Glamour sorgte, vor allem aber für eine klare und aufrechte Haltung steht, klingt es wie der geradezu ideale Titel.
Auch – erst recht – wenn der in diesem Jahr ungewohnt düstere Eröffnungsfilm, der im Sommer schon beim Festival von Cannes begeisterte, das genaue Gegenteil beschreibt. „Große Freiheit“? Höchstens ein Wunsch. Vielleicht ein Moment, eine Erinnerung. Immer wieder aber ein Schlag ins Gesicht.
Das Gefängnis ist Hans vertraut. Die immer gleiche Prozedur bei der Aufnahme, die menschenverachtenden Bestrafungen, der ernüchternde Sadismus der Wärter. Sein Verbrechen: Lust und Liebe. Denn Hans ist schwul. Zum Straftäter macht ihn – den Franz Rogowski in der Regie von Sebastian Meise als einen Mann spielt, der sein Schicksal erduldet, ohne das es ihn bricht, unerschrocken, durchlässig und berührend zart – der deutsche Paragraf 175. Der Gesetzestext sorgt dafür, dass jemand wie Hans direkt aus dem befreiten Konzentrationslager ins Gefängnis überstellt wird. Dass er vom Staat überwacht wird, wenn er sich mit anderen Männern zur „Unzucht“ auf öffentlichen Toiletten trifft. Der Paragraf 175 wurde – man muss sich das beim Schauen tatsächlich immer wieder vergegenwärtigen – erst 1994 abgeschafft.
Filmfest Hamburg: 110 Filme aus 50 Ländern
Ja, die Welt, in der wir leben, ist „keine romantic comedy“, sagt Filmfest-Direktor Albert Wiederspiel und erinnert in seiner Eröffnungsrede im Großen Saal des Cinemaxx am Dammtor vielleicht auch deshalb daran, wo er selbst den Mann seines Lebens fand (nämlich: „auf dieser Bühne!“). „Zeitkapseln“ nennt Wiederspiel jene Filme, die – wie der gänzlich frauenfreie „Große Freiheit“ – als eine Art Nabelschnur wirken, die uns nach wie vor mit dem Geschehenen verbindet.
Und die das Filmfest Hamburg auch in diesem Jahr im Programm hat: 110 Filme aus mehr als 50 Ländern, „Die Hand Gottes“ zum Beispiel, in dem der italienische Regisseur Paolo Sorrentino von seiner Jugend in Neapel erzählt, „Belfast“ über die Kindheit des Schauspielers und Regisseurs Kenneth Branagh, „Happening“, der Gewinnerfilm des Festivals von Venedig (siehe Text unten), der die Tragödie um eine Abtreibung im Frankreich des Jahres 1963 zum Thema hat, „Evolution“ des ungarischen Regisseurs Kornél Mundruczó, der 1945 in Birkenau beginnt, später im Budapest der 1990er-Jahre spielt und bis ins Berlin der Gegenwart führt.
Wiederspiel zitiert seine Kollegin Kathrin Kohlstedde, die wie der Filmfest-Chef selbst maßgeblich an der Auswahl der Produktionen beteiligt ist: „Filmemacher ziehen Bilder aus der Vergangenheit heran, um die Gegenwart zu erklären und einzuordnen. Oder um uns daran zu erinnern, wie schnell Geschichte wieder aktuell werden kann.“
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Filmfest Hamburg: Wiederspiels überfälliger Orden
Aber die Welt sei „veränderbar“, weiß auch Kultursenator Carsten Brosda (SPD), der die Eröffnungsrede für den verhinderten Ersten Bürgermeister Peter Tschentscher hält und mahnt: „Nie ist alles gut.“ Dass manches sich trotzdem zu einem Besseren fügt, wenn auch bisweilen sehr, sehr langsam und gegen heftige, bösartige Widerstände, auch davon erzählt „Große Freiheit“. Und nicht zuletzt zeugt davon auch die Biografie von Albert Wiederspiel selbst.
Für seine „künstlerischen und kulturellen Leistungen um Hamburg“ erhält der 60-Jährige in diesem Jahr („endlich“, wie auch der Senator einräumt) die Biermann-Ratjen-Medaille: Albert Wiederspiel habe nicht nur „viel dazu beigetragen, Hamburg als Filmstandort auch international bekannt zu machen“, er vermittele zwischen Kulturen und Welten und setze sich „gegen die Unterdrückung von Künstlerinnen und Künstlern und für die Freiheit der Kunst“ ein, insbesondere und mit Nachdruck für verfolgte Filmemacherinnen und Filmemacher wie Jafar Panahi, Mohammad Rassoulof oder Oleg Sentschow. „Albert Wiederspiel bezieht Position“, so Brosda weiter, „für demokratische Grundwerte, die Sicherung von Meinungsvielfalt und das Leben von und in Vielfalt.“
Er werde den Orden mit Stolz tragen, „auch weil Hamburg zu mir immer sehr gut war“, dankt Wiederspiel für die hohe Auszeichnung – und erinnert an seine Großmutter Regina, die als junge Frau vor 110 Jahren einige Zeit in Hamburg verbrachte. Auch sie hätte ohne Frage guten Grund, stolz zu sein auf ihren Enkel und dessen klares Einstehen für die „Große Freiheit“.
Filmfest Hamburg, bis 9. Oktober, Programm und Tickets unter filmfesthamburg.de