In Amsterdam erinnern zahlreiche Orte an das Mädchen, das nur 15 Jahre alt wurde. Jetzt kommt ein neuer Film über sie ins Kino.

Die Schlange vor dem Haus in der Amsterdamer Prinsengracht 263 ist lang, mindestens 100 Meter. „An manchen Tagen geht sie sogar um die Westerkerk herum und wieder zurück“, sagt eine Mitarbeiterin des Anne-Frank-Hauses. Rund 1,2 Millionen Besucher kommen pro Jahr, um sich die enge Wohnung anzusehen, in der sich bis kurz vor Kriegsende acht Menschen vor dem Zugriff der NS-Schergen versteckten. Leider vergebens, wie man weiß. Sie wurden verraten, ermordet, verhungerten oder starben an Erkrankungen – nur Annes Vater Otto Frank überlebte. Heute sind die Erinnerungen an Anne Frank in der niederländischen Metropole längst zu einem Fremdenverkehrsfaktor geworden. Am 3. März kommt ein neuer Film über sie in die Kinos.

Vor der Westerkerk, in der auch der Barockmaler Rembrandt begraben liegt, steht eine kleine Bronzestatue, die an Anne Frank erinnert. Das Glockenspiel dieses Gotteshauses hatte sie in ihrem Versteck hören können und in ihrem Tagebuch beschrieben. Es war für sie eine Erinnerung an eine nahe und für sie doch so unerreichbare Freiheit. Als die Kanadier 1945 die Stadt befreiten, hatte man Familie Frank schon ins Konzentrationslager transportiert.

Das Museum im ehemaligen Versteck zeigt geschickt aufbereitete Tagebuchseiten, Filme und Originalobjekte. In Anne Franks ehemaligem Zimmer hat sie Fotos und Zeichnungen auf die Wand geklebt, darunter Motive von Leonardo da Vinci und Fotos von Greta Garbo, Ray Milland und Heinz Rühmann. Sonst sind die kleinen Zimmer leergeräumt.

Als aus dem Haus im Jahr 1960 ein Museum wurde, wollte Otto Frank, dass die Leere der Räume die Leere nach der Verschleppung von Millionen Menschen symbolisieren sollte, die nie zurückkehrten. Amsterdam erinnert mit dem Anne-Frank-Haus an seine berühmte Einwohnerin, die Stadt ist aber auch voller Kontraste, denn direkt gegenüber legt die Lovers Canal Cruises zu Grachtenfahrten ab.

Anne Frank wurde 1929 in Frankfurt geboren. 1934 zog die Familie nach Amsterdam, weil sie sich in den Niederlanden vor antisemitischer Verfolgung sicher wähnte. 1940 fielen deutsche Truppen ins Land ein. Zwei Jahre später begann Anne im Alter von 13 Jahren mit dem Tagebuchschreiben. Kurz danach zog die Familie ins Versteck in der Prinsengracht und nahm dort noch vier weitere Personen auf.

Das Tagebuch ist offen, neugierig und bisweilen hellsichtig geschrieben. Sie ist ein ganz besonderes Mädchen und doch auch ein ganz normaler Teenager, wenn sie schreibt: „Einmal wird dieser schreckliche Krieg doch vorbeigehen, einmal werden wir doch wieder Menschen und nicht nur Juden sein!“ An anderer Stelle: „Das halte ich nicht aus, wenn so auf mich aufgepasst wird, dann werde ich erst schnippisch, dann traurig, und schließlich drehe ich mein Herz wieder um, drehe das Schlechte nach außen, das Gute nach innen und suche dauernd nach einem Mittel, um so zu werden, wie ich gern sein würde, und wie ich sein könnte, wenn ... wenn keine anderen Menschen auf der Welt sein würden.“ Und schließlich: „O ja, ich will nicht umsonst gelebt haben wie die meisten Menschen. Ich will den Menschen, die um mich herum leben und mich doch nicht kennen, Freude und Nutzen bringen. Ich will fortleben, auch nach meinem Tod.“ Das hat sie geschafft, auch wenn die Menschen im Versteck 1944 verraten und abtransportiert werden.

Der Blick ist rückwärts gewandt, als wollte sie sich ein letztes Mal umschauen

Eine zweite Statue von Anne Frank steht etwa drei Kilometer entfernt am Merwedeplein ganz in der Nähe vom Haus mit der Nummer 37, in dem Anne mit ihrer Familie lebte, bevor sie am 6. Juli 1942 in ihr Versteck in der Prinsengracht umzogen. Das Statuen-Mädchen trägt eine Schultasche, der Blick ist leicht rückwärts gewandt, so als würde sie sich ein letztes Mal umschauen. Hier beginnt Stadtführerin Daphne Duyne ihre Tour. Sie erzählt, dass die Nachfrage nach diesen Stadttouren groß ist. Dreimal ist sie in dieser Woche schon mit Besuchern durch das Viertel gelaufen. Sie erklärt, dass zu Beginn des Zweiten Weltkriegs etwa 80.000 Juden in Amsterdam lebten. Allein 13.000 aus dem Stadtteil Rivierenbuurt, in dem wir gerade stehen, wurden von den Nazis ermordet oder verhungerten.

In dem Quartier sieht man viele Klinkerbauten. Nicht weit von der Wohnung der Franks findet man auch heute noch einen Buchhandel. Dort hatte sich Anne Frank ihr erstes rotweiß kariertes Tagebuch ausgesucht, das sie zu ihrem 13. Geburtstag geschenkt bekam. Wenige Straßen weiter steht die Montessori-Schule, die sie besuchte, bis ihr das durch die Rassegesetze verboten wurde. Heute trägt die Schule ihren Namen, und die Fassade des Gebäudes ziert ein Faksimile eines ihrer Tagebucheinträge. „Die Lehrer hielten sie für nicht besonders begabt. Aber sie war wohl ein sehr fröhliches Mädchen und hat in der Schule ziemlich viel gequatscht“, sagt Duyne.

Als wir wieder den Ausgangspunkt der Tour erreichen, wartet dort Regisseur Hans Steinbichler, der gerade „Das Tagebuch der Anne Frank“ verfilmt hat. Sechs Wochen, erzählt er, habe man im Studio in Köln gearbeitet und dort die klaustrophobische Stimmung des Verstecks im Hinterhaus nachempfunden. Die viertägigen Dreharbeiten in Amsterdam seien danach wie eine Belohnung gewesen, erinnert er sich. Aber auch nicht ohne Schwierigkeiten. Nur einen klitzekleinen Bildausschnitt habe man im Merwedeplein benutzen können, ohne die Gegenwart ins Bild zu bekommen. Das Team durfte nur wenige Autos von den Parkplätzen vor den Häusern entfernen. „Die Holländer wundern sich, dass Anne Frank eine Deutsche war“, hat der Regisseur erfahren. Die Niederländer hätten sie für eine der ihren gehalten, da sie ihr Tagebuch auf Holländisch geschrieben hat.

Auch Steven Spielberg, Roman Polanski, David Mamet wollten den Film drehen

Die Konkurrenz für dieses Filmprojekt sei groß gewesen. Auch Steven Spielberg, Roman Polanski und David Mamet hätten sich dafür interessiert, so Steinbichler. Der Anne Frank Fonds habe sich aber für eine deutsche Produktion mit einem deutschen Regisseur entschieden. Steinbichler, den das Portal „mediabiz.de“ als „Erneuerer des deutschen Heimatfilms“ bezeichnet, ist der erste Deutsche, der dieses Thema inszeniert, nachdem es bereits einen US-Kinofilm und eine BBC-Serie dazu gegeben hat.

„Meine Leitplanke war die Integrität der Ermordeten“, sagt Steinbichler über seine Vorgehensweise in dem Film über den „berühmtesten Flüchtling der Welt“. Er wollte unbedingt vermeiden, eine oberlehrerhafte Geschichtsstunde abzuliefern. Vor der Kamera der Hamburgerin Bella Halben standen Martina Gedeck, Ultrich Noe­then, Stella Kunkat und Margarita Broich. Hauptdarstellerin Lea van Acken, bekannt aus Dietrich Brüggemanns Film „Kreuzweg“, war zu Beginn der Dreharbeiten 15 Jahre alt – wie Anne Frank. Steinbichler war nicht nur als Regisseur gefordert, ihm half auch seine Lebenserfahrung als mehrfacher Vater, denn die junge Schauspielerin drohte sich zu sehr mit ihrer Rolle zu identifizieren. „Wir mussten Lea austreiben, dass sie Anne ist.“

Ein Foto von Anne Frank aus den 40er-Jahren
Ein Foto von Anne Frank aus den 40er-Jahren © picture alliance

Das Filmteam machte in Amsterdam auch einige kuriose Erfahrungen. Als der Abtransport der Versteckten aus der Prinsengracht gefilmt wurde, sollte ein Bretterzaun verhindern, dass Passanten durchs Bild liefen. Das funktionierte ganz gut. Aber einer bohrte ein Loch ins Holz, filmte seinerseits das Filmteam und stellte das Video dann ins Internet. Für eine andere Szene war geplant, die im Krieg übliche Verdunkelung nachzuempfinden. Die Anwohner wurden informiert, um Verständnis und Mithilfe gebeten. Es wurde dunkel, die Anwohner löschten ihre Lichter – bis auf einen. Er schaltete extra viel Beleuchtung an und hängte zusätzlich sogar noch eine holländische Fahne aus dem Fenster. Späte Rache?

Wie die Niederländer heute mit dem Erbe von Anne Frank umgehen, ist nicht unumstritten. Vergrätzt zeigte sich der niederländische Historiker Bart Wallet, der laut „Deutschlandfunk“ sich vor zwei Jahren gegen die Vermarktung von Anne Frank wandte und sagte, es sei ein Wunder, dass man noch keine T-Shirts oder Kaffeebecher mit ihrem Bild verkaufen würde. Andere Experten, wie der „Times“-Journalist Ben Macintyre, widersprechen. Beinahe jedes Mittel sei recht, um die Geschichte dieses Mädchens noch bekannter zu machen. Natürlich hat die Realität den Streit überholt, denn es gibt solche Becher und T-Shirts längst zu kaufen.

Aber die Niederländer schufen auch noch eine weitere Attraktion. Im Holzhafen der Stadt wurde vor zwei Jahren das Theater Amsterdam eröffnet. Mit Sinn für Timing wählte man dafür den Jahrestag der deutschen Kapitulation aus, den 8. Mai. Auf dem Spielplan der in einem Industriegebiet liegenden Bühne stand bislang nur ein Stück: „Anne“. Hollands Starautoren-Ehepaar Jessica Durlacher und Leon de Winter hatten aus dem Tagebuch eine neue Bühnenversion gemacht, die mit einem Prolog beginnt, der Anne Frank nach Kriegsende in Paris zeigt, wo sie einem jungen Verleger von ihrem Tagebuch erzählt. Das fand Britta Behrendt von der „Jüdischen Allgemeinen“ dann doch „auf der Grenze zur Sentimentalität“. Das Stück von Durlacher und de Winter war auch die Basis für die Inszenierung von „Anne“, die das Ernst Deutsch Theater 2015 zeigte.

Auf der großen runden Guckkasten-Bühne des Theaters in Amsterdam, die einem Imax-Kino ähnelt, entfaltet sich das Drama bis zum bitteren Ende. In der Pause kann man im Theaterrestaurant Boven de Planken einen Prosecco schlürfen. Der Holocaust gerät gefährlich nah an die Event-Kultur der Musicals. Zurzeit läuft im Theater das 3-D-Musical „Sky“. Ab April wird in dem 1100 Zuschauer fassenden Saal wieder „Anne“ gezeigt.

Womöglich hat es viele Tagebücher wie das von Anne Frank gegeben, die wir nur nicht kennen. Die Millionen Menschen, die nach Kriegsende vom Schicksal dieses Mädchens erfahren haben, konnten nicht verhindern, dass auch heute Menschen fliehen und sich verstecken müssen. Vielleicht sitzt längst schon wieder irgendwo ein Teenager und schreibt Tagebuch, auf Papier, einem Laptop oder Tablet, über schreckliche Kriegserlebnisse, die ihr oder ihm die Freiheit rauben.