Hamburg. Der Rapper und Punkrocker verarbeitet im Buch „Ich habe alles außer Kontrolle“ seine Vergangenheit. Wie der Plan entstand.

Beginner, Fünf Sterne Deluxe, Dendemann, Samy Deluxe, Disarstar, Nate57, Neonschwarz, Fettes Brot, Deichkind: Hamburg war und ist ein großes, nach Bongwasser riechendes Sammelbecken des Hip-Hop. Sie alle hat auch das Abendblatt schon getroffen.

Um Ferris alias Sascha Reimann aber wurde viele Jahre lang ein Bogen gemacht: „Der ist unberechenbar“, „Fertich-Ferris“ und Ähnliches hörte man von Leuten, die sich auskennen. Seine Fernsehauftritte in den Nuller-Jahren bei Viva, entweder völlig verpeilt oder alles und jeden beschimpfend, sowie abgebrochene Livekonzerte taten ihr Übriges, um das Bild von Ferris als Hamburger Enfant terrible zu betonieren: Das ist doch der Typ, der Hanf plantagenweise konsumiert und Ecstasy aus dem PEZ-Spender einwirft und sich dafür auch noch feiert?

Sasha Reimann veröffentlicht authentisches Buch

„Echt, du hattest Angst vor mir?“, fragt Sascha Reimann, als wir ihn im Gebäude von Edel Entertainment in Neumühlen treffen. Er wirkt sowohl amüsiert als auch erschrocken. Und die gleichen Gefühle befallen einem beim Lesen seines autobiografischen Buches „Ferris – Ich habe alles außer Kontrolle. Kein Roman“, das am 1. April erscheint. So schonungslos wie authentisch beschreibt Reimann, geboren 1973 in Neuwied, das Aufwachsen in einer Bremer Hochhaussiedlung.

Seine Mutter hat sich von Reimanns Vater getrennt und lädt einen übergriffigen Säufer nach dem anderen nach Hause ein. Reimann, umgeben von einem Umfeld aus vielen weiteren Schlüssel- und Scheidungskindern, erfährt nur wenig Glück. Ein aufgeschnappter Geldschein verheißt Süßigkeiten, bis der Magen schmerzt, und später Cannabis, was die Lunge hergibt.

Reimann flieht nach Hamburg

Aus Stapeln von raubkopierten VHS-Kassetten mit Ab-18-Inhalten baut er Burgen um seine Kindheit. Und dann kommt die Musik. Die hatte in den 80er-Jahren noch einen Wert: „Du bist Kilometer für diese eine LP gelaufen, die dich dann dein Leben lang begleitet.“

Zwischen Hauptschulabschluss und Kfz-Mechanikerlehre (ohne Führerschein) wird Reimann 1993 als Ferris MC Teil der Freaks Association Bremen (F.A.B.), die zur Ur-Generation des deutschen Hip-Hop gehört. Trotz massiver Drogeneskapaden hält die Truppe einige Jahre durch, bis Reimann, bereits über den Rand der persönlichen und finanziellen Verwahrlosung hinaus, 1996 nach Hamburg flieht.

Reimann wird in die „Mongo Clikke“ aufgenommen

Obwohl Bremer, wird er in der „Mongo Clikke“ aufgenommen, einem so losen wie mackerhaften Bund von Rappern (Das Bo, Jan Delay), DJs, Sprayern und Herumhängern. Mit seinem Solo-Debüt „Asimetrie“ steigt Reimann 1999 in die erste Rapper-Liga auf, aber schafft es nicht aus wechselnden Siffbuden hinaus. Jede Gage, jede Einnahme wandert in Cannabis, Kokain, MDMA, LSD. Totalausfälle, ein Knastaufenthalt – das ist seine Tour de Force.

„Irgendwann sagte mir jemand: ,Für mich warst du immer das beste Vorbild, keine Drogen zu nehmen, damit ich nicht so werde wie du‘“, bilanziert Reimann heute. Die Schattenseiten des Star-Daseins, Flucht in das High, das kennt man aus den Autobiografien von hartgesottensten Konsumenten wie Ozzy Osbourne, Lemmy Kilmister oder Mötley Crüe. Bei allen Schrecken haben diese Bücher auch etwas Faszinierendes.

„Ich habe meinen Körper immer weiter zugemüllt“

Schließlich können sich diese Herrschaften mal eine feine Reha leisten. Auch Reimanns Beschreibungen der Ur-Geschichte des Hamburger Hip-Hop, Katz-und-Maus-Spiele mit der Ordnungsmacht und andere Szene-Details lesen sich sehr unterhaltsam. Aber Reimann findet keine Ruhe. Freunde mit besonders dickem Fell wie sein treuer DJ Stylewarz halten zu ihm, aber aus den vielen Löchern hilft ihm keiner. „Ich habe meinen Körper immer weiter zugemüllt, ohne mal den Eimer zu entleeren.“

Als am Ende der Nuller-Jahre der Körper den täglichen Konsum der ganzen Speisekarte nicht mehr mitmacht und kollabiert, kommt Reimann zum ersten Mal vielleicht in seinem Leben zu sich. Er lässt von allem die Finger, sogar vom fanatisch verherrlichten Cannabis, weil er keine Optionen mehr hat, wenn er weiterleben will. Heute reflektiert er, wie sehr er vom Leben belohnt wird, je mehr Abstand er von seinem Alter Ego Ferris gewinnt, das heute nur noch eine Kunstfigur ist.

Reimann verlässt Deichkind

Erst kommen die großen Arena-Touren nach dem Einsteig 2008 bei Deichkind („Wir haben Ferris, was habt ihr?“), die er 2018 verlässt. Über die Gründe schweigt er. Dann lernt er bei einer Party im Techno-Club Baalsaal an der Reeperbahn Helena kennen. Bei beiden ist es Liebe auf dem ersten Blick, aber sie lässt ihn zappeln, um seine Ernsthaftigkeit zu testen.

Wie besessen umgarnt Reimann sie und schleppt kistenweise Cola und Fanta nach Hause, weil Helena auf Softdrinks steht. Ist sie auch eine Form von Rausch? „Voooooll“, ruft Reimann. Wenige Monate nach dem ersten Tanz heiraten die beiden.

„Ich war schon immer Punk, auch im Rap-Kontext“

Reimann ändert seine musikalische Ausrichtung. Seine Alben „Wahrscheinlich nie wieder vielleicht“ (2019) und die am 22. Juni erscheinende Platte „Alle hassen Ferris“ sind dreckiger, grobgehämmerter, dosenverbeulter Asi-Punk­rock.

In Songs wie „Partisanen“, „Freizeit und Kuchen“, „Was ist geblieben“ und „Alles außer Kontrolle“ tobt sich Reimann aus, wirft sich freudig in die Gosse und weckt die Geister, die auch nüchtern in ihm schlummern: „Das wird noch nicht so akzeptiert, wie ich das will. Ich war schon immer Punk, auch im Rap-Kontext. Hip-Hop war für mich schon immer Punk mit einem anderen Musikgewand, dazu gehörte bei mir auch das selbstzerstörerische Element. Was ich aber erst wahrgenommen habe, als ich keine Drogen mehr genommen und das reflektiert habe.“

Sascha Reimann plante sein Buch seit zehn Jahren

An seinem Buch plant Reimann bereits seit zehn Jahren. Aber erst die Schwangerschaft seiner Frau vor vier Jahren sorgt für den letzten Schub: „In der Schwangerschaft prasselten meine Kindheitserlebnisse auf mich ein, diese Zeit hat mich sozusagen durchtherapiert. Denn einerseits ist es zwar traurig, wenn ich auf meine Kindheit zurückschaue, aber dadurch weiß ich ganz genau, wie ich es als Vater nicht machen werde.“

Und so hart und aufwühlend die Lektüre von „Ich habe alles außer Kon­trolle“ auch sein mag, dieses Buch ist auch Beweis dafür, was Liebe bewirken kann. Geschrieben hat es Helena Reimann, denn niemand ist Sascha Reimann wie auch Ferris im Leben so nah gekommen wie die Frau, die Teil seiner Rettung war und ist. Wahrhaftiger wird es nicht mehr. Nicht alle lieben Ferris. Aber die Richtigen, die tun es.

Sascha Reimann, Helena Anna
Reimann: „Ferris – Ich habe alles außer Kontrolle. Kein Roman“
Edel Books, 320 S., ab 1.4. im Handel
Ferris
„Alle hassen Ferris“ Album (Arising Empire) ab 22.6. im Handel