Hamburg. Erfrischend: In ihrem neuen Buch bündelt die Hamburger Autorin Katharina Hagenaeine Kulturgeschichte des Singens – und spornt an.

Die kulturelle Praxis des Singens wird in diesem Buch umfassend untersucht. Wenn man die Autorin kennt und ihre Vita, in der zum Beispiel ein Aufenthalt mit Lehrtätigkeit in Dublin vermerkt ist und grundsätzlich viel Spezialistentum, was James Joyce angeht, erwartet man fast ein Kapitel zum „Ulysses“. Katharina Hagena findet im Epochenwerk des glorreichen Iren logischerweise viel Musikalität und jedenfalls alle Passagen, in denen ein Liedchen geschmettert wird. Apropos Odysseus: Der wurde, halbwegs wenigstens, von Sirenen betört, den gefährlichsten Sängerinnen der Weltgeschichte.

Hagena erklärt in ihrem kleinen Essay zur Musik in der griechischen Epik, warum Kirke aber, so rein geschlechterkampfmäßig, tatsächlich schlauer als Odysseus war, indem sie ihm mit ihrer Warnung vorm Betreten der Sirenen-Insel das eine, ultrawichtige Lied vorenthielt. Er hätte eben doch auf die Insel müssen! Damit die Sirenen ihn mit der entscheidenden Darbietung Erkenntnisgewinn verschaffen!

Buchkritik: Von den Nymphen zu den Singvögeln

Hagenas eigene Deutung des homerischen Stoffes ist feministisch. Dass sie auch bei den Nymphen in der griechischen Sagenwelt mal genauer hinsieht – sie wurden oft Opfer von Vergewaltigungen –, schärft den Blick. Nach der Lek­türe ihres erfrischenden neuen Buchs „Herzkraft“, in dem Hagena in Essayform viele Zugänge zum Thema „Singen“ findet, ist man eh keineswegs dümmer.

Von den Nymphen ist es zum Beispiel nicht weit zu allerlei Singvögeln; in ihrem auch anatomisches und zoologisches Interesse berücksichtigenden Text erklärt sie uns die Körper von Singvögeln. Sie können so schön singen und fliegen, weil sie neben ihren Lungen auch Luftsäcke besitzen – wichtig für Sangespower und Aerodynamik. In einem Gedicht Ursula Krechels steht der bildhübsche Vers „Vögel sind die Ornamente der Luft“. Das stimmt insbesondere dann, wenn zur Ästhetik die Akustik dazukommt.

Lyrik die musischste Form der Literatur

Gedichte sind ein nicht unerheblicher Bestandteil dieses Buchs. Bei Rilke, Bachmann, Frost, Celan und dem unvermeidlichen Eichendorff („Schläft ein Lied in allen Dingen“) findet Hagena die Motive für ihre Kulturgeschichte des Singens. Weil Lyrik die musischste Form der Literatur ist – sind es bei den Griechen nicht die homerischen „Gesänge“, die am berühmtesten wurden? Man darf die in „Herzkraft“ abgedruckten Gedichte als Mittler zwischen kühlem Verstand und heißem Herzen betrachten. Die promovierte Literaturwissenschaftlerin Hagena, deren Romanbestseller „Der Geschmack von Apfelkernen“ 2008 erschien, mag in Versen auch schwelgen können; aber der analytische Zugang ist nie weit.

Und dennoch ist „Herzkraft“ insgesamt vor allem als anspornendes Kompendium gedacht. Katharina Hagena, die in mehreren Chören singt, wenn nicht gerade Corona ist, will die Leserinnen und Leser überreden, selbst die Stimmbänder anders als zum bloßen Sprechen zu benutzen. „Singen ist immer beides zugleich: Erde und Luft, durchlässig und kraftvoll, Fluss und Form“, schreibt Hagena einmal.

Familiengeschichte immer wieder angeschnitten

Und sie ist sowieso reichlich im Bereich der Analogien unterwegs. Atmen, Schreiben, Singen: Das hängt für eine Schriftstellerin, die singt (oder eine Sängerin, die schreibt) alles miteinander zusammen. Singen und Schreiben sind beides Möglichkeiten des Ausdrucks; oder wie Hagena es formuliert – „In der Stimme, singend oder schreibend, tritt dein Inneres nach außen“.

Katharina Hagena: „Herzkraft –  Ein Buch über das Singen“, Arche Literatur Verlag, 144 S., 18 Euro.
Katharina Hagena: „Herzkraft – Ein Buch über das Singen“, Arche Literatur Verlag, 144 S., 18 Euro. © Arche Literatur Verlag AG

Sie selbst tritt mit dieser Buchveröffentlichung im Übrigen auch nach außen. Mit ihrer Familiengeschichte, die in diesem Buch immer wieder angeschnitten wird. Hagenas Leidenschaft fürs Singen ist genealogisch angelegt. Und deswegen kann sie am allerbesten davon erzählen, was das Singen mit ihr (und, wie sie sicher nicht zu Unrecht annimmt) und mit allen anderen macht, wenn sie davon erzählt, wie sie ihr Vater einst am Wochenende nie ausschlafen ließ, weil er schon früh morgens Lieder schmetterte. Oder wie sie mir ihrer Mutter beim Autofahren gemeinsam gegen die sich stets einstellende Übelkeit ansang.

„Herzkraft“ ist ein lebensnahes Buch

Der Vater stammt aus einem Pastorengeschlecht, da lag Singen auf der Hand und durchaus auch das laute. Die Kirche will beschallt sein. Wenn die weitläufige Familie sich heute trifft, berichtet Hagena, werden Bach-Choräle angestimmt und das Paul-Gerhardt-Gesangsbuch hervorgeholt. Es gibt, folgt man den Bekenntnissen der Sängerin Hagena, aber auch das private Solo-Programm: Wenn sie zu den Klängen von Haushaltsgeräten singt. Die Alltäglichkeit musikalischer Betätigung – sagt da jemand etwa „Staubsauger-Trällern“? – könnte nicht besser illustriert werden.

„Herzkraft“ ist ein offenherziges, sagen wir ruhig: lebensnahes Buch, ein Plädoyer für den Gesang. Ein Buch, indem Hagena („Warum möchte ich unbedingt gut aussehen beim Singen, wo doch eigentlich niemand gut aussieht dabei?“) auch auf die Scham zu sprechen kommt, die einen manchmal beim Singen befällt. Dass Lieder auch immer wieder ideologisch missbraucht wurden und Singen Propaganda war, spart die Autorin nicht aus. Historisch gerade in Deutschland erzeugte Misstöne, die in ihrer Liebeserklärung, nichts anderes ist „Herzkraft“ natürlich, nur kurz anklingen. Die Lieder der Liebe (steile These aber: „Es ist wahr, letztlich ist jedes Lied ein Liebeslied“) und die des Abschieds sind lauter, sozusagen. Was Hagena in ihnen finden will und findet, ist Transzendenz. Und wer möchte das nicht auch?

Buchkritik: Eine Ode an die Kraft der Musik

Als Ode an die Kraft der Musik ist dieser Text aber auch für Nicht-Sänger in seiner Menschlichkeit entwaffnend: „Inzwischen bin ich es, die meinem Vater Abendlieder vorsingt, manchmal stundenlang. Er liegt in einem Pflegeheim, umnachtet, ganz ohne Sprache. Aber wenn ich Brahms’ Wiegenlied anstimme, singt er die erste Strophe mit, und morgen früh, wenn Gott will, wird er wieder geweckt. Und sein kranker Nachbar auch.“

Katharina Hagena stellt ihr Buch „Herzkraft“ am 8.2. mit musikalischer Begleitung im Literaturhaus vor. Auch im Stream ist Beginn 19.30 Uhr