Hamburg. Autor Ronald Reng las in der Spielstätte des HSV aus seinem Buch über das 0:1 der Bundesrepublik im WM-Spiel 1974 gegen die DDR.

Diese Lesung muss natürlich dort beginnen, wo alles begann. Im Innern des Volksparkstadions, wo Jürgen Sparwasser, Nationalspieler der DDR, am 22. Juni 1974 das Tor seines Lebens schoss. Das Tor zum 1:0-Sieg gegen den Klassenfeind, die Bundesrepublik, Gastgeber der WM 1974. Betreuerinnen und Betreuer des HSV führen die Gäste in Gruppen durch die Arena in Hamburg, zeigen stolz beheizte Trainerbänke, edle Logen und Hightech-Lampen, die den Rasen für besseres Wachstum in UV-Licht tauchen.

Mit dem WM-Stadion von 1974, dieser unwirtlichen Betonschüssel, hat das Volksparkstadion 50 Jahre später nur noch den Namen gemein – und dies auch nur dank des Milliardärs Klaus-Michael Kühne, der 2015 die Namensrechte kaufte.

Volksparkstadion: Autor Ronald Reng stellt Buch über Länderspiel gegen DDR vor

Nach der Stadiontour begrüßt Rainer Moritz, Leiter des Hamburger Literaturhauses und bekennender Fußballfan, den Autor Ronald Reng im „Eventcenter“ des Stadions, auch so ein Begriff, der vor 50 Jahren nur ratloses Kopfschütteln ausgelöst hätte. „1974, eine deutsche Begegnung“, heißt das Buch, das Reng an diesem Freitagabend vorstellen wird.

DDR-Stürmer Jürgen Sparwasser (3. v. l.) schoss am 22. Juni 1974 im WM-Gruppenspiel im Hamburger Volksparkstadion den 1:0-Siegtreffer gegen die Bundesrepublik Deutschland.
DDR-Stürmer Jürgen Sparwasser (3. v. l.) schoss am 22. Juni 1974 im WM-Gruppenspiel im Hamburger Volksparkstadion den 1:0-Siegtreffer gegen die Bundesrepublik Deutschland. © picture-alliance / dpa | dpa

Allein die fußballerischen Absurditäten, die Reng zum einzigen deutsch-deutschen Länderspiel zusammengetragen hat, lohnen die Lektüre. Wie Günter Netzer, der viel zitierte „Rebell am Ball“, sich als Ersatzspieler auf der Laufbahn des Volksparkstadions warmlief und der Platzwart ihn anschnauzte: „Mensch, du machst mir ja die ganze Bahn kaputt.“

Denn die war damals noch aus Asche, die dicken Stollen pressten Löcher ein. Wie die DDR-Nationalspieler die drei weißen Streifen ihrer kostbaren Adidas-Schuhe vor dem Putzen mit Heftpflaster abklebten, damit sie im Flutlicht glänzten. Oder wie Berti Vogts nach dem Abpfiff einen Korb der verschwitzten bundesdeutschen Trikots auf einem Wägelchen in die Gegnerkabine karrte. Jeder DDR-Spieler nahm sich eins und warf sein blaues Dress in den Korb. Den damals üblichen Trikottausch auf dem Platz hatte sich die DDR-Führung verbeten – bloß keine Verbrüderung mit dem Klassenfeind.

Autor Reng sprach mit Mann, der angeblich Anschlag auf WM 1974 plante

Doch „1974, eine deutsche Begegnung“ ist mehr, viel mehr als ein gutes Fußballbuch. „Hier geht es um Zeitgeschichte“, sagt Moderator Moritz – und hat recht. Begeistern wird es selbst die, die mit dem Namen Beckenbauer eher einen mittelständischen Hersteller für sanitäre Anlagen assoziieren als den Kaiser.

Reng führt die Leser zurück in eine Zeit, geprägt von Terrorangst. Das monströse Attentat der palästinensischen Terrorgruppe „Schwarzer September“ auf die zuvor so heiteren Olympischen Spiele in München 1972 lag erst zwei Jahre zurück, nichts fürchtete die Bundesregierung mehr als einen erneuten Terroranschlag.

Bei seinen Recherchen im Archiv der Hamburger Polizei fand Reng den Aktenvermerk eines Justizbeamten, der gehört haben wollte, wie der in Zweibrücken inhaftierte Terrorist Klaus Jünschke mit seiner Verlobten über einen geplanten Raketenangriff der RAF auf ein WM-Stadion sprach. Reng investierte viel Zeit, um Jünschke, inzwischen 76, 1988 aus lebenslanger Haft begnadigt, zu einem Gespräch zu überreden.

Und so erfährt man aus nächster Nähe vieles über den Weg von einem Studenten der Psychologie zu einem der meistgesuchten Terroristen. Jünschke erfuhr erst von Reng vom Aktenvermerk und ist sicher, dass er so etwas nie gesagt habe – die RAF habe gar nicht über Raketen verfügt.

Buch über Spiel gegen die DDR: Reng schrieb auch die Biografie über Robert Enke

„Zeitzeugen geben der Geschichte, was nur Menschen vermögen: Sie füllen sie mit Leben“, schreibt der Autor der preisgekrönten Biografie über den Nationaltorwart Robert Enke im Prolog. Dies gilt auch für die Hamburger Autorin Doris Gercke, Erfinderin der Serienfigur Bella Block. Gercke, man glaubt es kaum, zeigte damals als Reiseführerin in einem Bus der Firma Jasper WM-Touristinnen und -Touristen aus der DDR die Hansestadt. Ihre wichtigste Qualifikation aus Sicht der Stasi: Sie war damals Mitglied der DKP. Spontan schenkte ihr ein Gast eine Karte für das Spiel.

Doris Gercke, die mit Fußball überhaupt nichts anfangen konnte, saß unter den handverlesenen 1500 Schlachtbummlern der DDR, die ihre Mannschaft mit Rufen wie „8, 9, 10, Klasse“ oder „DDR vor, noch ein Tor“ anfeuerten. Stasi-Mitarbeiter stimmten die Sprechchöre an, akribisch hatte die Partei die Schlachtrufe ausgearbeitet.

Und dann schreibt Reng noch über Matthias Brandt, es sind die berührendsten Sequenzen. Reng schildert, wie der Kanzlerspross am 13. März 1974 auf die Torwand des „Aktuellen Sportstudios“ schießen durfte. Willy Brandt war der Stargast im ZDF, doch den Torwand-Job überließ er lieber seinem zwölfjährigen Sohn. Der glühende Netzer-Fan traf zweimal – und war knapp zwei Monate später bitter enttäuscht, dass sein Papa wegen der Guillaume-Spionage-Affäre zurücktrat.

Volksparkstadion: Als Kanzler Helmut Schmidt die Pfeife aus der Hand fiel

Er wollte doch an der Seite seines Vaters die WM-Spiele in den Stadien sehen. Stattdessen saß im Volksparkstadion der neue Kanzler Helmut Schmidt unter den Ehrengästen. Dem fiel kurz vor der Halbzeit fast die Pfeife aus der Hand, als Gerd Müller nur den Pfosten traf. Also wechselte er wieder zur Zigarette.

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Zwei Wochen nach dem Desaster gegen die DDR zielte Gerd Müller bekanntlich besser, sein 2:1 gegen die Niederlande in München machte die Bundesrepublik zum Weltmeister. Zum Finale durfte Matthias Brandt mit seinem Vater ins Stadion. Bei der Siegerehrung vermisste er sein Idol. Netzer war nicht einmal für die Ersatzbank nominiert und musste – so streng war das Protokoll – auf der Tribüne bleiben.

Ronald Reng, 1974, Eine deutsche Begegnung, 430 Seiten, Piper Verlag, 24 Euro