Hamburg. So gibt es das in Hamburg nicht oft: Nach Teil zwei der großen Theaterserie am Schauspielhaus gibt es minutenlang Standing Ovations.
Einmal, ganz zu Anfang, schnauft sie kurz durch. Steht da, allein an der Rampe, und atmet hörbar aus. Nicht keck oder herausfordernd, eher offen. Erreichbar. Bereit. Nimmt Kontakt auf mit denen, die da in den Rängen und im Parkett auf sie gewartet haben. Man kann das tatsächlich genau sehen. Die ganze Bühnentiefe hat sie einmal durchschritten, von ganz hinten nach ganz vorn. Alles ihrs.
Dann schaut Lina Beckmann ins Publikum und beginnt zu erzählen. Von einem Vogel, der am Himmel kreist, der eigentlich eine Katze ist, eine singende Katze, die eigentlich eine Frau ist oder doch ein Vogel oder alles zugleich, die Sphinx? Es ist verwirrend, aber das ist egal, sie führt einen da durch, sie packt einen schon in den ersten Minuten.
Es ist die Geschichte von Laios, um den es diesmal vor allem geht, Vater des Vatermörders und Mutterschwängerers Ödipus, vorerst letzter Nachkomme des Theben-Gründers Kadmos. Und es ist der zweite Teil der ambitionierten Antiken-Serie am Deutschen Schauspielhaus: „Anthropolis – Ungeheuer. Stadt. Theben“. Fünf Episoden wird der Reigen über den Gründungsmythos unserer Zivilisation am Ende haben, vor 14 Tagen erst hat die Intendantin und Regisseurin Karin Beier mit „Prolog/Dionysos“ den üppigen, ausschweifenden Auftakt herausgebracht (um es hier knapp und unzureichend zusammenzufassen: Blut, Schweiß und Alkohol).
Premiere mit Triggerwarnung: eine „Geschichte voller Wahnsinn und Gewalt“
Und in dieser Schlagzahl geht es über die nächsten Wochen weiter. „Laios“ ist die zweite Uraufführung der Pentalogie, dem tragischen Titelhelden hatte sich keiner der üblichen Verdächtigen, weder Aischylos noch Sophokles noch Euripides, ausreichend gewidmet. Oder zumindest ist es nicht ausreichend überliefert. Nun ist es ein Monolog aus brandneuen Texten des Gegenwartsdramatikers Roland Schimmelpfennig, ein Lina-Beckmann-Solo, und – Achtung, Triggerwarnung – eine „Geschichte voller Wahnsinn und Gewalt“.
Was bisher geschah. Die Zikaden dürfen kurz an den Beginn des ersten Teils erinnern, als sie schon einmal gezirpt haben, und auch die tote Kuh liegt noch immer auf der Seite (Bühne: Johannes Schütz). Erinnert sich jemand? Jene Kuh, die zu Tode gehetzt worden war, damit dort, wo sie zusammenbrach, eine Stadt gegründet werden konnte. Lina Beckmann macht die Vorgeschichte, insbesondere die kniffligen Verwandtschaftsverhältnisse der alten Griechen, zum charmanten Mythen-Quiz: Naaa, wer weiß noch, welchen Embryo sich Zeus in den Oberschenkel eingenäht hatte, „ruhig reinrufen“.
Es folgt der „Einzug des Chores“. Fünf aufgeblähte Riesenköpfe schleppt die Schauspielerin auf die Bühne, die Mäuler der Maskenparade sind zu stumm-entsetzten Schreien aufgesperrt. Auch Lina Beckmann trägt zwischenzeitlich Maske und wird durch einen bucklig-schwankenden Gang und eine Schnurrbart-Teilvermummung zum schrägen Zeremonienmeister, der sich selbst den roten Teppich ausrollt.
Lina Beckmann am Schauspielhaus: „Was ist das denn für eine Riesenscheiße?!“
Unter anderem. Denn auch alle weiteren Figuren werden von ihr angespielt und ausgereizt. Thronerbe Laios etwa kehrt mit minderjährigem Jüngling in eine Stadt zurück, die er unter brutalen Umständen als Kind einst verließ, bis die grausame Prophezeiung der Alten im Schnellimbiss „Pythia“ ihm und seiner Frau Iokaste die eigene Familienplanung vermiest. Oder wie Iokaste die Ödipus-Weissagung zusammenfasst: „Was ist das denn für eine Riesenscheiße?!“ Je verworrener dieses „Game of Thrones“ sich gestaltet, je komplexer sich die Erzählstruktur mit zahlreichen Haupt- und Nebenfiguren aufblättert, desto mehr kommt Lina Beckmann in Fahrt. Keine Kurve, die sie dabei nicht mit Karacho nimmt. Wo im ersten Teil vor zwei Wochen ein großes Ensemble war, dazu Trommler und Trommlerinnen, Kinder, ein echtes Pferd, ist jetzt nur sie. Reicht.
Dabei erzählt sie ja eigentlich bloß. Aber wie sie das tut, ist atemberaubend. Volles Risiko bei absoluter Durchlässigkeit. Sie verkörpert die Brüche, die Autor Schimmelpfennig in den Text gepflanzt hat, zeigt Schwächen auf, Überheblichkeit, Ehrgeiz, Fortschritt, Rückschritt und durch die Generationen (am Ende also vielleicht auch an uns?) vererbte Verletzung. Menschheitsgeschichte. Und die gesamte Ambivalenz und Widersprüchlichkeit liegt in ihrem Auftritt.
Lina Beckmann: Sie schwitzt und tanzt und keucht und raucht und brüllt und kreischt und gurrt
Welch eine Verführungskraft, welch eine Besessenheit, welche Reserven sie noch im entgrenztesten Zustand mobilisiert! Und was eine unbändige Lust am Spiel diese Frau zur Verfügung hat, was für einen Charme und einen zauberhaften, manchmal derben, manchmal ganz schelmischen, beiläufigen Witz. Dabei wechselt sie die emotionalen Witterungslagen so rasant, dass einem schon beim Zusehen schwindelig wird. Sie schwitzt und tanzt und keucht und raucht und brüllt und kreischt und gurrt und flüstert und krächzt und balzt und spottet und schreit und flirrt und gluckst und zuckt und leuchtet. Bei Bedarf ohrfeigt sie sich selbst.
Karin Beier ist es unterdessen gelungen, mit „Dionysos“ und „Laios“ zwei ganz unterschiedliche Abende zu entwerfen. In Erzählform, Besetzung und Dynamik weichen sie voneinander ab und funktionieren nicht zuletzt dadurch auch für sich allein. Durch einen gemeinsamen Spannungsbogen, einen gemeinsamen Ton korrespondieren sie dennoch spürbar miteinander.
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Am Schluss steht Lina Beckmann da im fleckigen Shirt, mit schweißnassem Haar und dick mit Farbe oder Ton zugekleistertem Gesicht. Anderthalb Stunden erst ist der erste kurze Auftakt-Schnaufer her. Was für eine Strecke diese Schauspielerin in diesen 90 Minuten gegangen ist. Die Begegnung mit „Ödipus“, die nächste Tragödie der „Anthropolis“-Saga, deutet sich in ihrem Schatten bereits an.
Doch zunächst bricht ein Begeisterungssturm los, wie ihn das Schauspielhaus (oder irgendein anderes Hamburger Theater) so auch nicht alle Tage erlebt. Minutenlang wird Lina Beckmann – und mit ihr die Regisseurin und der Autor, vor allem aber doch die Extremschauspielerin – mit Standing Ovations gefeiert. Ein sensationeller Abend. Ein Ereignis. Fortsetzung folgt.
„Laios“ läuft wieder am 1. und am 11.10., außerdem im Rahmen der „Anthropolis“-Marathon-Wochenenden im November (17.–19.11.) und Dezember (8.–10.12.). Die nächste Serienfolge, „Ödipus“ mit Devid Striesow, feiert am 13. Oktober Premiere. Karten gibt es unter schauspielhaus.de/anthropolis