Hamburg. Bei „Die Geschichte des verlorenen Kindes“ am Thalia Theater bleibt offen, was Regisseurin Ewelina Marciniak an dem Stoff interessiert.

Erst verschwindet die Tochter Tina. Auf einem bunten Markttreiben mitten in Neapel. Später wird auch ihre Mutter Lila unauffindbar bleiben. Sie wird ihre Freundin Elena allein zurücklassen und dabei einen Sack voller Mythen und Vermutungen mitnehmen. War es ein Unfall? Eine Entführung? Ein Irrtum der mafiösen Feindesbrüder Solara? Das Rätsel ist eingeschrieben in die Erinnerungen an eine letzte Umarmung unter den Freundinnen und in die großen fragenden Augen von Rosa Thormeyers Elena.

Elena Ferrantes Bestseller: Lieber lesen als ansehen

Es lassen sich viele interessante Anknüpfungspunkte in der Romansaga der Autorin Elena Ferrante finden, die mit dem Titel „Meine geniale Freundin“ begann und ein Welterfolg wurde: sozialer Aufstieg, Emanzipation, Familienmodelle und Freundschaft. Über einen Zeitraum von sechs Jahrzehnten erzählt sie die Geschichte der beiden sehr unterschiedlichen Freundinnen Elena und Lila, die doch eines teilen – die Kindheit in Neapels ärmlichem, wildem Arbeiterstadtteil Rione in den beklemmenden, von Gewalt geprägten 1950er-Jahren.

„Die Geschichte des verlorenen Kindes“, die nun am Thalia Theater zur Aufführung gelangte, ist deren 2018 auf Deutsch erschienener vierter Teil. In der Version von Ewelina Marciniak bleibt leider vollkommen offen, was genau sie eigentlich an dem Stoff interessiert.

Elena will noch einmal ganz von vorne anfangen

Eine elegante Wohnung mit deckenhohen Bücherwänden und Designermöbeln (Bühne: Mirek Kaczmarek): In diesem Ambiente findet sich die akademisch aufgestiegene Schriftstellerin Elena in Florenz bei ihrem Noch-Ehemann, dem Bücherwurm Pietro, und den beiden gemeinsamen Töchtern wieder. Doch sie will noch einmal ganz von vorne anfangen, wieder Bücher schreiben. Und mit Nino, einem Emporkömmling, politischen Opportunisten und Frauenverführer, der sie mit süßen Worten und Küssen einseift, aber mehr oder weniger heimlich bei seiner Erstfamilie bleibt, in Neapel leben.

Es gibt wortreiche Beschwörungen von Liebe und Verzweiflung, auch Versuche harscher Abgrenzung (Stückfassung Iga Gańczarczyk). Eltern sterben. Neue Kinder kommen. Der Erfolg bleibt brüchig und die raue Vergangenheit Neapels präsent. Doch all das wird recht brav, konventionell und der Psychologie folgend heruntererzählt. Für eine aufrüttelnde Zäsur sorgt ein Erdbeben, das die Stadt unterhalb des im Hintergrund orangefarben leuchtenden Vesuvs heimsucht. Die Bücherwände in der Video-Animation wackeln, der Inhalt entleert sich auf den Boden, eine Wand stürzt ein.

Thalia Theater: Manches wirkt allzu gezwungen und ausgestellt

Bis dahin folgt man dieser mehr oder weniger dysfunktionalen Familie. Und weiß nicht, ob man Rosa Thormeyers auf Selbstverwirklichung setzende Elena wirklich gerne zur Freundin hätte. Mit viel künstlicher Emphase lässt sie die vielen, teils sehr emotionalen Worte erklingen. Manches wirkt dabei allzu gezwungen, ausgestellt. Andere im immerhin großartig aufspielenden Ensemble bleiben unterfordert.

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Sebastian Zimmler stattet den schillernden Frauenschwarm, der es zu einem Alfa Romeo und einem lachsfarbenen Anzug bringt, mit viel physisch unheilvollem Verführercharme aus. Julian Greis hält als Lilas Geschäfts- und Lebenspartner Enzo Scanno einen eindringlichen Monolog, als das Kind verschwindet. Bei der sonst so starken Anna Blomeier bleibt Lila, die eigentlich Interessante, Lebenskluge der beiden Freundinnen, die sich mit außergewöhnlicher Computerbegabung hocharbeitet und eine Existenz aufbaut, seltsam blass. Bei Jirka Zetts Pietro liegt das in der Rolle selbst. Von André Szymanskis mafiös schmierigem Michele Solara hätte man gerne mehr gesehen.

André Szymanski als mafiös-schmieriger Michele Solara.
André Szymanski als mafiös-schmieriger Michele Solara. © Krafft Angerer | Krafft Angerer

Thalia Theater: Der Inszenierung fehlt eine eigene Fantasie

Und so bleibt es vor allem an den kraftvollen Mutterfiguren, Sandra Flubacher als herbe Mutter Elenas und Christiane von Poelnitz als ihre bärbeißige, launig überzeichnete Schwiegermutter, Dynamik ins mitunter langatmige Spiel zu bringen. Auch wenn von Poelnitz die Rolle der Adele mitunter bis zum Klamauk ausreizt, sorgt die zupackende Art, mit der sie auch mal Familienporzellan in einer gefräßigen Handtasche verschwinden lässt, für Freude.

Ansonsten aber fehlt dieser Inszenierung mit all ihren in warmen Rot-, Orange- und Rosatönen eingekleideten Figuren (Kostüme: Julia Kornacka) bis auf wenige traumartige Sequenzen eine eigene Fantasie. Wie ein fremdartiges Anhängsel wirkt es, wenn anlässlich einer Lesung auf einmal diskutiert wird, ob die Autorin nun die Realität und ihre Menschen für die Kunst ausgeplündert habe. „Meine geniale Freundin. Ich wollte sie verewigen“, murmelt Thormeyers Elena da nur mehr verhalten.

Manchmal sind Romane vielleicht zwischen zwei Buchdeckeln besser aufgehoben. Dann nämlich, wenn eine Geschichte einfach ohne Richtung und Fokus heruntererzählt wird. Die Empfehlung lautet: Lesen.

„Meine geniale Freundin. Die Geschichte des verlorenen Kindes“ weitere Vorstellungen 30.9., 19.30 Uhr, 1.10., 17 Uhr, 9.10., 19.30 Uhr, 24.10., 19.30 Uhr, Thalia Theater, Alstertor, Karten unter T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de