Hamburg. Der Skandalroman „Noch wach?“ kommt ins Theater. Wie Regisseur Christopher Rüping und der Autor mit der Inszenierung umgehen.
Es war das wohl meistdiskutierte Buch des Frühjahrs – an diesem Freitag nun bringt Regisseur Christopher Rüping die Uraufführung von Benjamin von Stuckrad-Barres„Noch wach?“ zum Saisonauftakt am Thalia Theater heraus. Ein Werk, das alles hatte, um zum Skandal zu werden, weithin wurde es als Schlüsselroman über den Axel-Springer-Verlag gelesen.
Beim Treffen von Autor und Regisseur im Foyer-Teeraum des Hamburger Theaters merkt man sofort: Hier sitzen zwei, die sich gut verstehen. Viele Textnachrichten gingen während der Proben hin und her, in denen sich die beiden intensiv austauschten – die Inszenierung allerdings kam dabei nicht vor. Eine Begegnung.
Hamburger Abendblatt: Herr von Stuckrad-Barre, warum haben Sie „Noch wach?“ geschrieben?
Benjamin von Stuckrad-Barre: Aus Notwehr und poetischem Gestaltungswillen, zu etwa gleichen Teilen, könnte man sagen. Aber ich plane Bücher nie. Sie widerfahren mir. Der einzig nennenswerte Vorteil von Schmerz, Problemen und Krisen ist, dass sie irgendwann später dann mal gutes Material zum Schreiben hergeben. Und dann geht es nur noch um Sprache, das ist mein Beruf. Wie genau sprechen die Figuren, das ist mir viel wichtiger als Handlung. Über die Figurenrede kann man Menschen und soziale Vorgänge am genauesten fassen.
Das Buch ist ja eine Art Sittengemälde. Der Icherzähler, ehemaliger Mitarbeiter eines Medienkonzerns, der unter anderem einen krawalligen Boulevardsender unterhält, durchlebt darin einen moralischen Sinneswandel. Sind Sie mit dem Chor der Rezensionen zufrieden?
Stuckrad-Barre: Moralischer Sinneswandel, ich weiß nicht, das ist mir gleich etwas zu deutlich. Aber natürlich kann man das auch so lesen. Jeder Leser liest, auf Basis seiner eigenen Erfahrungen, ein anderes Buch darin. Und ich freue mich erst mal über jede Resonanz, man möchte ja Reaktionen erzeugen. Das Tolle an der Kunst ist ja auch: Man hat das Thema für sich nach drei Jahren abgeschlossen, hat eine Form gefunden, dann zündet man die Bombe und ist schon weg, wenn sie explodiert. Und alle anderen können dann damit machen, was sie wollen.
Stuckrad-Barre: „Andere Sinneswahrnehmungen werden attackiert, das kann wundervoll sein“
Herr Rüping, worin liegen für Sie die Qualität des Buches und der Reiz, es zu inszenieren?
Christopher Rüping: Ich habe vor einigen Jahren ja schon „Panikherz“ von Benjamin inszeniert. Damals habe ich die Erfahrung gemacht, dass seine Sprache auf der Bühne trägt und seine Texte sowohl die Menschen, die sich acht Wochen mit ihnen beschäftigen, als auch die, die sie drei Stunden lang zu hören bekommen, erreichen. Und herausfordern. Deswegen hatte ich ihn vor einiger Zeit gefragt, ob er was Neues in Arbeit habe …
Herr von Stuckrad-Barre, was ist der Ansporn für Sie, Ihren Text für die Bühne adaptiert zu sehen?
Stuckrad-Barre: Natürlich Geld (lacht). Aber nicht nur! Bei Rüpings „Panikherz“-Inszenierung habe ich eindrucksvoll erleben dürfen, was Theater kann. Der Text wird erweitert, andere Sinneswahrnehmungen werden attackiert, das kann wundervoll sein. Und es hilft mir zudem, so ein Buch und so einen ja schon auch belastenden Stoff wieder aus meinem System zu verabschieden.
Herr Rüping, besteht angesichts des Buch-Hypes überhaupt die Chance auf eine eigenständige Arbeit? Wie sehr inszeniert man dagegen an?
Rüping: Hab ich mich am Anfang auch gefragt. Aber ab der ersten Probe interessiert das äußere Echo des Textes eigentlich nicht mehr, sondern nur noch das innere, also das der Beteiligten. Im Team diskutiert man, entwickelt eine Lesart, auf deren Basis dann sowohl die Textfassung als auch die szenische Umsetzung entsteht.
Herr von Stuckrad-Barre, worin sehen Sie das dramatische Potenzial?
Stuckrad-Barre: Drama besteht ja aus Konflikten. Und Konflikte kann ich! Ach, na ja, wenn Schriftsteller über das Schreiben sprechen, muss ich mich immer übergeben. Die Grundkonstellation aber, dass so ein heutiger Multimedienkonzern, der sich selbst, allen Mitarbeitenden und allen Investoren die eigene Ratlosigkeit als kaum mehr parodierbare Zukunftsvision zurechtschminkt, während innen eigentlich niemand mehr weiß, was genau er da eigentlich tut, aber Hauptsache digital – und der andererseits geprägt und regiert wird von einem grotesken 50er-Jahre-Männermachtgefüge, nun, das scheint mir doch sehr bühnengeeignet.
Herr Rüping, wie läuft die Zusammenarbeit mit dem Autor. Gibt er Ihnen freie Hand?
Rüping: Also, wir haben eine Textfassung erstellt, und das Thalia Theater hat eine Freigabe erfragt …
Stuckrad-Barre: Ich habe das Dokument noch nicht mal geöffnet, weil ich mich überwältigen lassen will bei der Premiere und einfach gespannt bin, was ihr daraus macht. Meine Darstellungsform ist das Buch, und jetzt seid ihr dran. Gewaltenteilung, ganz wichtig.
Stuckrad-Barre: „Ich glaube, dass er mir viel mehr über mein Buch sagen kann als ich ihm“
Rüping: Und deshalb fühle ich mich sehr frei. Wir schreiben uns gelegentlich Textnachrichten …
Stuckrad-Barre: Aber konkret um die Inszenierung meines Romans geht es dabei nie. Ich habe ein großes Vertrauen in Christophers Arbeit und mische mich deshalb überhaupt nicht ein, das ist für alle produktiver. Auch glaube ich, dass er mir viel mehr über mein Buch sagen kann als ich ihm.
Haben Sie schon Post von Springer-Anwälten bekommen? Werden Sie an manchen Stellen konkreter als die Vorlage?
Rüping: Ich hab bisher nichts gehört, aber kann ja noch kommen. Auf der Bühne bekommen die Figuren, die im Buch ja erst mal der Vorstellungskraft der Leser überlassen sind, natürlich einen Körper, einen Gang, eine bestimmte Art der Gestik. Sie werden konkret. An einigen wenigen Stellen fühlt man sich dadurch sicherlich auch an Menschen aus der Realität erinnert.
Stuckrad-Barre: Beim Springer-Verlag lieben sie doch bekanntermaßen die Kunst und die Kultur. Die Kunstfreiheit ist wie das Tempolimit eigentlich Verlagsziel. Deshalb werden die das, glaube ich, mit großer Freude genießen können.
Herr von Stuckrad-Barre, der Roman ist ja von grotesker Komik durchzogen, das Personal bedient sich gleichzeitig einer starken Ironie. Ist das der Weg, sich mit Machtmissbrauch auseinanderzusetzen?
Stuckrad-Barre: Der Erzählanlass, das beschriebene System des Machtmissbrauchs, das ist ja eine Tragödie – und ein tragischer Stoff muss natürlich auch komisch erzählt werden, da erst wird es doch interessant. Und nach oben zu lachen, das ist ein oft hochwirksames Mittel der Selbstverteidigung, klar. Es stellt die Macht infrage. Der Romanheldin Sophia, die ungefähr 20 verschiedene Frauen in sich vereint, hilft die Ironie, all die Goliath-Repressionen auszuhalten.
Die Frauenfiguren, vor allem die Praktikantinnen, die dem Chefredakteur auf den Leim gehen, erscheinen eher wenig eigenständig, auch wenn sie sich am Ende zusammentun. Warum haben Sie sie in dieser Weise beschrieben?
Stuckrad-Barre: Die Frauen in dem Buch sind ja sehr viel klüger als die Männer, lustiger, souveräner. Aber natürlich fügen sie sich, so wie jeder Mensch das notwendigerweise tut, in ein Machtsystem ein, schon allein, weil sie gerne ein Dach über dem Kopf haben möchten. Und die eigene Ohnmacht lange kleinzureden, das ist ein Versuch der Selbstbehauptung, es stützt nur perfiderweise eben den Machtmissbrauch. Ich habe das so dargestellt, wie ich es bezeugt, erlebt und verstanden habe.
Rüping: „Als Regisseur hat man ziemlich viel Macht – allerdings nur während der Proben“
Herr Rüping, Was erzählt „Noch wach?“ über den als Vorbild unverkennbaren Fall von Machtmissbrauch im Kontext einer großen Boulevardzeitung hinaus?
Rüping: Es geht um eine Struktur, um ein System. Das findet sich in einem Fernsehsender, einer Krankenkasse, einem Staatstheater. Überall wo Macht ist, wird sie potenziell missbraucht. Als Regisseur hat man ziemlich viel Macht – allerdings nur während der Proben, in einem fensterlosen Raum. Nach den Proben bin ich ein Niemand.
Stuckrad-Barre: Ach, nein? Ich dachte, du bringst mich jetzt groß raus!
Rüping: Noch größer? Jedenfalls: Im Theater habe ich ähnliche Erfahrungsberichte gehört wie jene, die der Erzähler im Roman von den Frauen erfährt. Wir stellen uns ja gerade die Frage, wie man hierarchisch-feudal organisierte Betriebe wie die Theater so organisiert, dass weniger Machtmissbrauch geschieht...
Stuckrad-Barre: „Und da sind wir eben jetzt eine gut gelaunte Selbsthilfegruppe“
Stuckrad-Barre: Das sind zwei grundverschiedene Ebenen: einerseits der Betriebsrat, andererseits die Kunst. Der Gesellschaft genau zu sagen, was zu tun wäre, das ist lächerlich und nicht mein Kunstbegriff. Doch die Frauen, die sich an mich gewandt haben und deren Geschichten mich bewogen haben, dieses Buch zu schreiben, die gibt es ja weiterhin. Die hat bis heute niemand um Entschuldigung gebeten. Sie sind weiterhin Kampagnen der übelsten Sorte ausgesetzt. Und da sind wir eben jetzt eine gut gelaunte Selbsthilfegruppe. Zwar habe ich durch all das Freunde verloren, aber auch unendlich mehr Freundinnen und Freunde dazugewonnen. Es gibt die Menschen, die mich wegen angeblichen Freundesverrats angehen, Lügen über mich verbreiten oder mir ganz offen Schläge angedroht haben, um sich der Macht weiter anheischig zu machen, einfach weil sie gerne weiterhin die Fleischtröge auslutschen wollen – aber auf unserer Seite ist es heller. Das ist die bessere Party.
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Herr von Stuckrad-Barre, der Roman erzählt von der #MeToo-Bewegung und zugleich von dem Bruch einer Freundschaft mit einem mächtigen Schöngeist, der seinen moralischen Kompass verloren hat. Warum ist diese Episode erzählenswert?
Stuckrad-Barre: Sie erklärt, wie die Erzählerfigur da überhaupt reingerät. Die Frauen in dem Buch vertrauen dem Erzähler, weil der zwar mit dem Chef befreundet ist, aber keine Eigeninteressen in dem Konzern hat. Ursprünglich hatte er seinen Freund, den Chef, retten wollen, bewahren vor dem Unheil, das aus dem Fehlverhalten in seinem Verantwortungsbereich erwuchs. Doch lernen wir dann, dem war das schon vorher alles weitgehend bekannt oder er hat es wissentlich übersehen, es war ihm egal. Der will gar nichts verändern, und darüber kommt es dann zum Bruch.
Rüping: In der Beziehung zwischen dem Erzähler und seinem Freund spiegelt sich auch das Verhältnis von Sophia zum Chefredakteur: Beiden fällt es schwer sich aus einer wenig gleichberechtigten Beziehung zu lösen, die sich mal gut angefühlt hat und jetzt nicht mehr gut ist.
Herr Rüping, warum interessieren Sie Gegenwartsstoffe aktuell stärker als große antike Dramen?
Rüping: Es ist nicht so, dass ich die Klassiker abschaffen will. Als Nächstes inszeniere ich die „Möwe“ von Tschechow. Aber Gegenwartsstoffe tun den Spielplänen gut – insbesondere wenn man sich die Frage stellt, für wen wir Theater machen und wen wir mit bestimmten Titeln ausschließen. Stoffe wie „Noch wach?“ oder „Brüste und Eier“ erzählen aus unserer Gegenwart, man muss sich nicht die ganze Zeit fragen, was das jetzt mit einem zu tun haben soll.
Das Ende des Romans ist ja eher desillusionierend. Sehen Sie das beide so?
Stuckrad-Barre: Es endet offen, im Nebel, gewonnen ist nichts, ein Happy End verbot sich, verbietet sich doch eigentlich meistens. Und speziell bei diesem Thema wären das Lüge, Propaganda, Kitsch. Erst als ich begriffen hatte, alles wiederholt sich permanent in Schleifen, die Vorwürfe, die Geschichten, die Lügen und Ablenkungsmanöver, die verlogenen Alibi-Einsichten der Macht, die niemals von den Opfern handeln, sondern alleinig der Fortführung der Machtverhältnisse zuarbeiten, erst da wusste ich, das ist ein Roman – und er darf keinesfalls gut und erbaulich enden. Denn das ist die Wahrheit.
Rüping: Das Ende ist stimmig für den Roman, aber nicht für das Theater. Da würde eine Energie verpuffen. Uns ist der Spagat wichtig, zu sagen auf der einen Seite sind diese Kämpfe nicht gelöst, indem man sie einmal kämpft, auf der anderen Seite sind die Anstrengungen nicht umsonst und nicht folgenlos.
Uraufführung „Noch wach?“ 8.9., 19 Uhr, Thalia Theater, Alstertor, Karten unter T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de