Hamburg. Christopher Rüping beschert dem Thalia Theater eine faszinierende Uraufführung des japanischen Bestsellers „Brüste und Eier“.

Haben Sie Kinder? Wollen Sie welche? Warum? Oh, ist Ihnen dieser Auftakt unangenehm? Empfinden Sie ihn als übergriffig? „Keine Angst, das wird jetzt nicht die ganze Zeit Mitmachtheater“, beruhigt die Schauspielerin Maike Knirsch, blickt freundlich und direkt in die Reihen und lässt das Publikum zur offenen Abstimmung die Hände heben („Richtig hoch!“).

Wer geglaubt hatte, sich in der Uraufführung von „Brüste und Eier“, der Dramatisierung des japanischen Bestsellers von Mieko Kawakami am Thalia Theater, gemütlich im Dunkel des Zuschauerraums verkriechen zu können, damit andere auf der Bühne womöglich eigene Geschichten verhandeln (oder fremde, auf die man inter­essiert aus sicherer Distanz blickt), dem mag da anfangs etwas unbehaglich sein.

Theaterkritik: Maike Knirsch hört aufmerksam zu

Vielleicht kein ganz schlechtes Spiegelbild für eine Grundsatzfrage, mit der sich die meisten Frauen spätestens an ihrem 30. Geburtstag konfrontiert sehen dürften. Der Rechtfertigungszwang nimmt zu. Und Maike Knirsch hört sich aufmerksam die Begründungen an. Weshalb also Kinder? „Weil die Natur das so will“, ruft einer aus dem Parkett, „um das Leben wahrhaftiger zu machen“, sagt ganz vorn eine andere.

Und auf der Übertiteltafel, die an diesem Abend regelmäßig aus dem Japanischen übersetzen wird, erscheint das allererste japanische Wort: „Kompliziert“. Das ist es, keine Frage. „Bin ich mehr ich, wenn ich meinen natürlichen Bedürfnissen folge – oder wenn ich ihnen gerade nicht folge?“ fragt Maike Knirsch, und noch eine Schippe drauf gibt der Perspektivwechsel: Will das Kind überhaupt geboren werden? Gefragt wird es ja in der Regel nicht. Hier schon: Der Regisseur Christopher Rüping gibt dem ungeborenen Leben nicht nur eine Stimme, sondern gleich mehrere, die „auf den Spuren der eigenen Geschichte stromaufwärts rudern“.

Rüping schafft einen ausgelassenen Abend

Das ist zwar etwas anders als im Roman, aber ein bestens funktionierender, sehr bühnentauglicher Kniff. Eine diverse Gruppe aus Spielern und Spielerinnen als „potenzielle Inkarnation des Kindes“, die am Ende entsteht. Raffiniert.

Und bei aller Erkenntnislust und diskursiven Flughöhe, bei aller emotionalen Last auch, die das Thema mitbringt, gelingt es Rüping und seinem Ensemble trotzdem, einen zwar ernsthaften, aber auch verblüffend leichten, poetischen, oft lustigen, ausgelassenen Abend zu schaffen, der schmerzhaft ist, aber auch sinnlich, wohltuend irritierend und vor allem: nicht belehrend.

Drei Frauen und ihre Lebensentwürfe im Zentrum

Drei Frauen und ihre Lebensentwürfe (beziehungsweise ihr Umgang mit gesellschaftlichen Erwartungen) stehen im Zentrum: Natsuko (Knirsch), die ein Kind möchte, aber Sex für überbewertet hält, ihre ältere Schwester Makiko (Hans Löw), die eine Brustvergrößerung plant und ausgiebig Methoden referiert, und deren verzweifelt pubertierende Tochter Midoriko (Julian Greis), die nur noch über ihr Tagebuch kommuniziert. Mütter, Töchter, Schwestern also, die sich permanent Zuschreibungen um die Ohren hauen (lassen) – wie den vermeintlichen Widerspruch zwischen Kunst und Muttersein zum Beispiel: „Die wirklich großen Schriftsteller scheren sich um niemanden!“

Christopher Rüping hat sich während der Probenvorbereitung mit dem japanischen Bunraku-Theater beschäftigt, einer traditionellen Form des Figurentheaters, in dem sich Körper und Text trennen: Überlebensgroße maskierte Charaktere agieren expressiv, während andere ihre Texte gewissermaßen synchronisieren. Inspiriert davon haben Bühnenbildner Jonathan Mertz und Lene Schwind (Kostüme) den Frauen, die schon deshalb ganz problemlos auch von Männern gespielt werden können, große, starre Pappköpfe verpasst.

Ensemble tanzt zu Song von ABBA

Die Sprecher und Sprecherinnen am Bühnenrand begleiten die Protagonistinnen als eine Art Reporter, Trainerin und Voyeur beim jeweiligen Zweifeln und Ringen. Ebenso wie der Live-Musiker Christoph Hart, der durch seine Klänge das Geschehen mal verstärkt, mal kommentiert und mal eine komplett neue Effektebene ermöglicht, wenn das Ensemble zu ABBAs „Lay All Your Love On Me“ in Glitzeroutfits eine campy Baby-Choreografie tanzt. Die wirkt übrigens weniger ironisch, als man vermuten könnte. Was zum Großteil daran liegen dürfte, dass die Tanzenden sich eben nicht lustig machen, sondern die Sehnsucht des Kinderwunsches, die darin steckt, ernst nehmen.

Der Tonfall und die Anmutung, die sich durch die verschiedenen ästhetischen Ebenen ergeben, sind dabei von einer faszinierenden Verschrobenheit, was natürlich auch daran liegt, dass Rüping einen Teil des Textes im (immer übertitelten) japanischen Original belässt. Zum Ensemble gehören diesmal auch die japanische Tänzerin und Choreografin Saori Hala und die japanische Schauspielerin Ann Ayano (die auch Deutsch spricht).

Theaterkritik: „Spermakönig“ treibt es mit einem Plüschhasen

Das Thema aber ist dermaßen universell, dass gerade der Wechsel zwischen Distanz und manchmal fast privat wirkender Nähe einen besonderen, erfrischenden Reiz entfaltet. Insbesondere Maike Knirsch reflektiert das in ihrem sehr eigenwilligen, radikal offenen, durchlässigen Spiel. Sie geht in ihrem Kittelkleid durch die mehr als drei Stunden der Inszenierung, als sei es eine Reise, die sie zum ersten Mal unternimmt.

Eine berührende Brüchigkeit und Wahrhaftigkeit bringen auch Hans Löw und Julian Greis (unter anderem als Mutter und Tochter) auf die Bühne – hier kommen auch die titelgebenden Eier ganz konkret zum Einsatz. Die Brüste präsentiert Oda Thormeyer („Krass, oder?“), bevor es Nils Kahnwald schließlich als selbst ernannter „Spermakönig“ ausgiebig mit einem riesigen Plüschhasen treiben darf. Etikettenschwindel kann man dieser Inszenierung von „Brüste und Eier“ jedenfalls nicht vorwerfen.Am Ende dieses wilden, zarten, suchenden Theatertrips steht ein Neubeginn, die Geburt des Kindes: „Im selben Moment hörte ich einen Schrei!“. Großer Applaus und hochverdiente Bravos.

„Brüste und Eier“ wieder am 13.5., 18.30 Uhr, und 14.5., 15 Uhr, Thalia Theater, Karten: Tel. 328 14-444 und www.thalia-theater.de