Hamburg. Die multimediale Performance „Rolling Stone“ des Ensembles Graindelavoix entfaltete in der Elbphilharmonie eine ungeheure Klangwucht.

Menschen, die in eine Höhle hinabsteigen. Ernste Blicke in die Kamera. Stumme Gebete auf den Lippen. Gesten der Bekreuzigung. Und immer wieder eine ältere Frau, die andächtig ihre Hände ans Gestein legt, einzelne Felsbröckchen vom Boden aufklaubt, mit geschlossenen Augen auf ihrer Kleidung verreibt.

Mit diesen bewegten Bildern, projiziert auf einen durchscheinenden Vorhang, beginnt der Abend im Großen Saal der Elbphilharmonie, in schummriges Licht getaucht. Ein Dokumentarfilm, in Schwarz-Weiß, begleitet Gläubige beim Besuch ihrer Pilgerstätte; sie hoffen auf die heilende Kraft der heiligen Felsen.

Elbphilharmonie: Ein Konzert, aus dem man wie aus einer Trance erwacht

Schwebende Sounds rahmen den Film. Erst ein einzelnes Horn. Danach ein Zink. Und die E-Gitarre, mit lang gezogenen, sphärischen Glissandi.

Dann, endlich: menschliche Stimmen, Gesang. Eine Art Kammerchor. Das Wort „Kyrie“, strömt in den Raum. Am Beginn der Missa „Et ecce terrae motus“ von Antoine Brumel, eine Messe von dunkler Klangwucht, entstanden um 1500. Sie steht im Zentrum des Programms. In ihr hallt das biblische Erdbeben des Ostermorgens nach, das ausbricht, als ein Engel erscheint und den Fels vom Grab Jesu wegrollt.

„Rolling Stone“: Elbphilharmonie und Kampnagel holen Performance nach Hamburg

„Rolling Stone“ heißt die multimediale Performance dann auch, die die Elbphilharmonie gemeinsam mit Kampnagel nach Hamburg geholt hat. Eine Produktion des belgischen Dirigenten und Musikforschers Björn Schmelzer. Mit seinem Ensemble Graindelavoix interpretiert er Vokalwerke der Renaissance – und nutzt dabei auch antihistorische Stilmittel, um die Menschen von heute zu erreichen. Der Gitarrist und Komponist Manuel Mota hat die Messe dafür mit zeitgenössischen Ideen und Techniken angereichert.

Die Vokalstimmen sind elektronisch verstärkt. Und zwar so gut, dass der aufregende Klang von Graindelavoix noch weiter angeschärft wird: Die Ornamente der Messe treten plastisch hervor, erinnern manchmal an die Verzierungen eines Muezzins. Und das helle, mitunter fast grelle Timbre der Oberstimmen fräst sich glühend ins Trommelfell. Man möchte den Vorhang auf der Bühne wegreißen, weil er nicht passt zur emotionalen Nähe, zum sehr direkten Sound.

Elbphilharmonie: Björn Schmelzer dirigiert sein Ensemble mit Ganzkörpereinsatz

Aber natürlich ist die Verschleierung Teil des Konzepts, ebenso wie das dezente Lichtdesign. Erst am Beginn des Credo rupft eine Sopranistin den Vorhang ab, lässt ihn zu Boden fallen. Gibt den Blick frei auf weitere sieben Sängerinnen und Sänger und fünf Instrumentalisten, alle in Schwarz, die in einem nach vorne offenen Kreis auf der Bühne stehen und sitzen.

Vor ihnen Björn Schmelzer, der sein Ensemble mit Ganzkörpereinsatz dirigiert und animiert. Er wippt in den Knien, kippt vor und zurück, fordert höchste Intensität. Auch hier wird das Konzert zur Performance und vermittelt eine ganz andere Energie als die meisten Annäherungen an die „Alte Musik“. Die Erschütterung des Bebens ist allgegenwärtig; die Bitte „Miserere nobis“, „Erbarm Dich unser“ bekommt eine besondere Dringlichkeit. Das erinnert an die flehentlichen Blicke aus dem Dokumentarfilm.

In so einer Interpretation wirkt die Musik zeitlos und nicht über 500 Jahre alt, sie lässt einen nie in Ruhe. Das ist stark, manchmal aber auch anstrengend, auf Dauer fast ein bisschen viel. Aber die Aufführung entwickelt einen unglaublichen Sog. Als die Messe endet, mit einem überraschenden Effekt, fühlt es sich an, als hätte einen jemand aus einer tiefen Trance aufgeweckt.