Hamburg. Beim Sommerfestival auf Kampnagel improvisieren Schauspieler Intimität. Man schaut ihnen gern zu – und ab und an auf die Uhr.

Für guten Sex ins Theater gehen? Auch ein bisschen bedürftig, vermutlich. Andererseits: Sex sells. Und der Stücktitel „Good Sex“ mag zwar schlicht sein, wirksam ist er trotzdem: Die Kampnagelhalle K1 ist zur Sommerfestival-Premiere der britisch-irischen Gruppe Dead Centre sehr gut gefüllt, über Lautsprecher läuft Offensichtliches von Salt ’n’ Pepa („Let’s Talk About Sex“), die angekündigte Versuchsanordnung ist verlockend.

Zwei bekannte Schauspieler (zum Auftaktabend sind es Pheline Roggan und Mark Waschke, die Besetzung ändert sich täglich) sollen eine Liebesszene spielen. Ohne Proben, der englische Text wird ihnen über einen Knopf im Ohr eingeflüstert. Eine Intimitätskoordinatorin (ja, so etwas gibt es beim Film tatsächlich) soll sie dabei unterstützen. Und darauf achten – das ist der gesellschaftspolitische Anteil –, dass hier alles im gegenseitigen Einverständnis passiert.

„Good Sex“ auf Kampnagel: Wird es peinlich? Werden Grenzen überschritten?

Die Hamburger Schauspielerin Pheline Roggan („Legend of Wacken
Die Hamburger Schauspielerin Pheline Roggan („Legend of Wacken") hat sich auf das Bühnen-Experiment eingelassen. © picture alliance/dpa | Markus Scholz

Ein Experiment, das vom Charisma der Akteure und von der Situationskomik lebt. Und von der Lust der Voyeure, also: des Publikums. Wird es peinlich? Wird es sinnlich? Werden Grenzen überschritten? Muss jemand etwa – mitmachen?

Nun, von allem ein bisschen. Tatsächlich schaut man Pheline Roggan und Mark Waschke, die sich als (fiktives) ehemaliges Paar an gemeinsame und weitere Beischlaferlebnisse erinnern und deren Körper gelegentlich zu mehr oder weniger ungelenken Umarmungen oder Küssen sortiert werden, nicht ungern zu. Gurgeln vorm Knutschen, Fantasieankurbeln beim Blowjob.

„Good Sex“: Das Überraschendste ist eigentlich, wie langweilig so ein Abend werden kann

Das Überraschendste dabei ist eigentlich: wie langweilig so ein Abend über Begehren und Einsamkeit und Nähe und Untreue dennoch werden kann. Dabei ist die Idee super und die Beteiligten alles andere als Spielverderber. Aber während man auf dem Smartphone vor und nach der Premiere das immer absurdere Geschehen rund um den übergriffigen spanischen Fußball-Chef verfolgt, bleibt die Improvisation auf der Bühne harmlos, sympathisch und freundlich. Feine Qualitäten, so ganz grundsätzlich. Aber eben – im Sex wie auf der Bühne – nicht zwingend abendfüllend.

Ja, es gibt diese Aufführungen beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel, die den Betrachter etwas ratlos zurücklassen. Und die manchmal doch faszinieren: Adam & Amina Seid Tahirs „Several Attempts At Braiding My Way Home“ ist der künstlerische Versuch des queeren afronordischen Geschwisterpaares aus Stockholm, einen utopischen Raum zu finden, ein Zuhause. Das beginnt mit eigenwilliger Handarbeit, in der Adam Seid Tahir am Boden der von drei Seiten einsehbaren Bühne aus Haarteilen einen langen Wandteppich webt, als folge er einem unbestimmten Ritual. Schließlich nimmt er zu den polyrhythmischen Klängen der Medien-Künstlerin Crystallmess die Tanzbewegung auf.

Internationales Sommerfestival: Ein Abend aus Südafrika findet auch auf Zulu statt – ohne Übertitel

Die aber hat es in sich. Seid Tahir führt minimale Bewegungen aus, scheint dabei jeden einzelnen Muskel zu isolieren. Fremdartig wirkt der Tanz, athletisch, hoch konzentriert. Die Bewegungen orientieren sich an Meerestieren wie Delfinen und Walrössern. Ihrer Fähigkeit, sich an ihre Umgebungen anzupassen ohne ihr Wesen zu verleugnen. Eine berückend getanzte Meditation.

Ein Theaterabend, der auf den ersten Blick so gar nicht in ein Avantgarde-Festival passt, kommt vom südafrikanischen Empatheatre. In dem eindringlichen Solo „Isidlamlilo (The Fire Eater)“ sitzt Mpume Mthombeni im realistischen Bühnenbild eines Einzimmer-Appartments samt Bett, Kochecke, Rollstuhl und Kleiderleine. Ein Frauenwohnheim, wie es sie in der Provinz KwaZulu-Natal an der Ostküste Südafrikas gibt. Dann beginnt sie zu erzählen, lachend, eine Orange schälend oder sich die Füße waschend, in einer Mischung aus Englisch und ein wenig Zulu (ohne Übertitel!).

Solo aus Südafrika: eine unglaubliche Leistung der herausragenden Schauspielerin

Ihre Geschichte ist jene von Zenzile Maseko, die in die Wirren des fast vergessenen Bürgerkrieges der Jahre 1990 bis 1993 hineingeriet, als sich Anhänger der Zulu-nationalen Inkatha Freedom Party (IFP) und des African National Congress (ANC) grausam und mit vielen Toten bekämpften. Sie erzählt von frühen Freundschaften am Fluss, dem harten Leben auf dem Dorf, gespickt mit Elementen der Hexerei und der Mythologie. Die Brutalität des Bürgerkrieges erfährt sie am eigenen Leib – und überlebt am Ende alles.

Eindringliches Solo: Mpume Mthombeni überzeugt im Stück „Isidlamlilo (The Fire Eater)“ des südafrikanischen Empatheatre.
Eindringliches Solo: Mpume Mthombeni überzeugt im Stück „Isidlamlilo (The Fire Eater)“ des südafrikanischen Empatheatre. © Val Adamson | DAVE_ESTMENT

Der Abend ist eine unglaubliche Leistung der herausragenden Schauspielerin Mthombeni. Sie zieht das Publikum tief in die Geschichte der Zenzile Maseko hinein, die sich den Widrigkeiten in einem bewegenden Akt der Selbstbehauptung entgegenstellt.

Es sind zwei gelungene Beispiele eines bislang starken Festivaljahrgangs auf Kampnagel. Der Sommer scheint vorbei zu sein, aber das Sommerfestival legt noch einen Endspurt hin. Nur nach dem guten Sex sucht man lieber andernorts.

Internationales Sommerfestival 2023 bis 27.8., Kampnagel, Jarrestraße 20-24, Karten unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de