Hamburg. In ihrem ersten Roman schreibt Sophia Hungerhoff über große Liebe und ein Tabuthema: ambivalente Mutterschaft.
An zwei Stellen schleicht sich die Protagonistin auf Zehenspitzen aus der Wohnung: einmal, um ihre Kinder zu verlassen und ein anderes Mal, um zu ihnen zurückzukehren. Dazwischen liegen nur wenige Tage, aber die haben es in sich. Anna, Redakteurin und, seit ihre beiden Kinder auf der Welt sind, im quasi nicht zu bewältigenden Spagat zwischen Teilzeit-Beschäftigung und Mutterrolle, hat es satt.
Die ungerechte Aufteilung zwischen ihr und ihrem Mann Moritz (der selbstverständlich Vollzeit arbeitet), die mentale Belastung, die sich zwischen Backen für den Geburtstag in der Kita und Freizeitgestaltung am Wochenende anhäuft. Und überhaupt: Wo ist die Liebe hin im ach so harmonischen Familienalltag (und damit ist nicht die Liebe zu ihrer Tochter Paula und ihrem Sohn Anton gemeint!)?
Sophia Hungerhoff: War es ein Fehler, Kinder zu bekommen?
Anna beschließt, in ihre frühere Studienstadt zu fahren. Zum ersten Mal ganz allein, wie aufregend. Für ein Seminar zum Thema Storytelling. Und, um ganz eventuell ihrer Jugendliebe Jan über den Weg zu laufen, den sie noch immer dort vermutet. „Ich wollte schon lange über die eine große Liebe im Leben schreiben, ob und wie sie im Alltag funktionieren kann“, sagt Sophia Hungerhoff, 42, im Telefon-Interview, für das sie ihren Bodenseeurlaub mit der Familie kurz unterbrochen hat.
Doch dann mischte sich noch etwas anderes in die Gedanken der Lektorin im Hamburger mareverlag: die eigenen Erfahrungen des Mutterseins, Gefühle von Isoliertheit und Überforderung und die Frage, warum ihr niemand vorhergesagt hat, wie anstrengend es ist, Kinder großzuziehen. Um ein Ventil für all das zu haben, begann Sophia Hungerhoff, während der Elternzeit ihren ersten Roman zu schreiben.
Ambivalente Mutterschaft ist kaum Thema in Romanen
„Manchmal fliegen“ ist kürzlich im Piper Verlag erschienen. Es ist eine Geschichte, in der die Frau im Zentrum steht mit ihren Zweifeln, Ängsten und der heimlichen Sehnsucht nach einem anderen Leben. Eine Frau, die eine Grenze überschreitet und darüber zu sich selbst findet. Das ist insofern besonders, als dass in der Romanliteratur bislang wenig zum Thema ambivalente Mutterschaft erschienen ist (abgesehen von Mareike Fallwickls „Die Wut, die bleibt“ von 2022).
Für Aufsehen hatte 2015 das Buch „#regretting motherhood. Wenn Mütter bereuen“ der israelischen Wissenschaftlerin Orna Donath gesorgt. Lange Zeit war dies ein Riesentabu, das die meisten Mütter nicht an sich heranließen. In der patriarchalen Gesellschaft werde das Muttersein idealisiert, es sei immer ausschließlich von Liebe die Rede, sagt Sophia Hungerhoff. „Wenn Mütter dann merken, dass Betreuung und Erziehung auch harte Arbeit sind, meldet sich schnell das schlechte Gewissen, weil die Mutterliebe doch alles leicht machen sollte.“
In Sozialen Medien tauschen sich Frauen kritisch aus
Zur selben Zeit laste auf Frauen (aber natürlich auch auf Männern) der für unsere heutige Gesellschaft so typische Selbstoptimierungsdruck. Sich zurückzunehmen, wie es das Leben mit Kindern nun mal erfordere, komme im Lebensplan nicht vor.
Doch laut der Autorin ändert sich gerade etwas in der gesellschaftlichen Debatte, es scheint eine zweite Runde zu geben: Zumindest in den Sozialen Medien tauschen sich Frauen kritisch übers Muttersein aus, „auf den Spielplätzen noch nicht ganz so laut“, sagt Sophia Hungerhoff. Und doch flossen ihre Beobachtungen und Gespräche mit Frauen aus ihrer Altonaer Nachbarschaft ins Buch ein.
Lässt sich die alte Beziehung ins neue Leben integrieren?
Die inneren Monologe, die Anna während ihrer Reise führt, dürften also vielen Leserinnen bekannt vorkommen: der Wunsch nach dem Alleinsein und gleichzeitig die immerwährende Sorge um die Kinder, die Wortgefechte mit dem Ehemann um die Care-Arbeit, Karriereknick und beengte Wohnverhältnisse (vielleicht sollten wir besser aufs Land ziehen?). Hatte Jan, ihre große Liebe aus Studienzeiten, nicht doch recht damit gehabt, keine Kinder zu wollen? Was, wenn es doch falsch war, ihm die Pistole auf die Brust zu setzen? Damals hatte er sie am Bahnhof kurz vor dem Besuch bei ihrer Familie stehen gelassen.
Anna will es herauszufinden und sucht Jan in seiner Wohnung auf. Ihre gemeinsame Nacht, diese Mischung aus Vertrautheit und Verlangen, das Zelebrieren ihrer Begegnung mit Kerzenlicht, Wein und Musik – lässt sich diese alte Beziehung ins neue Leben integrieren? Auf der Rückfahrt spielt sie alle möglichen Szenarien durch, von heimlichen Wochenenden bis zu einem offenen Abkommen mit ihrem Mann Moritz. Sie könnte auch noch ein paar Jahre überbrücken, bis die Kinder Teenager sind …
„Spätes Erwachsenwerden“: schmerzhaft, aber unabdingbar
Zur selben Zeit läuft ihr jetziges Leben wie ein Film vor ihr ab: Auch mit Moritz gab es intensiven Austausch, tollen Sex, und was haben sie nicht schon alles durchgestanden: Todesfälle und Streitereien in den Familien, die Schwangerschaften, die Geburten, den Jobfrust, Krankheiten und Unfälle, den unvermeidlichen Alltag mit all seinen Defiziten, das wirklich wahre Leben eben. „Irgendeinen Preis zahlt man immer, wer wüsste das nicht mit Ende dreißig, und man kann nur hoffen, dass es reicht, ständig auszuloten, ob er nicht zu hoch ist.“
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Sophia Hungerhoff nennt das Ende ihrer Geschichte das „späte Erwachsenwerden“: schmerzhaft, aber unabdingbar, um sich zu erkennen und ehrlich nach seinen Bedürfnissen zu leben. Ein Zurück in alte Verhältnisse gibt es indes nicht, vielmehr bleibt offen, wie Annas Leben weitergehen wird. Denn trotz allem: „Es wird immer diese Momente geben, in denen sich die Luft frischer anfühlt und es Anna woanders hinzieht. In denen sie sich daran erinnert, wie es mit Jan gewesen ist. Wie es war, alles auf einmal zu wollen.“
Sophia Hungerhoff: „Manchmal fliegen“, Piper Verlag, 224 S., Hardcover, 22 Euro. Lesung bei Anja Schwennsen unterm Kirschbaum mit Sophia Hungerhoff und Dominik Haitz, Do 24.8., 18.00, Wulmstorfer Ring 9a, 21149 Hamburg (Bus 240 Fischbeker Heuweg), Eintritt frei