Berlin. Der Film „L’immensità“ von Emanuele Crialese erzählt von einer leidenden Mama – und einer Tochter, die lieber ein Junge sein will.

„Gehst du aus?“, fragt der kleine Junge ängstlich. Denn seine Mutter, das weiß er, schminkt sich nur, wenn sie ausgeht. Oder wenn sie geweint hat. Nein, tröstet sie ihn, sie geht nicht aus. Und sie hat auch nicht geweint. Ausgelassen tobt sie mit ihm und seinen zwei Geschwistern herum. Aber sie tut das so demonstrativ, dass man als Zuschauer die Lüge ahnt.

Denn das idyllische Familienleben der Borghettis im Rom der 70er-Jahre besteht nur nach außen. Wird für den Rest der Familie, auch für die Kinder, mühsam aufrechterhalten. In Wirklichkeit ist Vater Felice (Vincenzo Amato) despotisch und gewalttätig und verbirgt kaum die Affäre mit seiner Sekretärin. Mutter Clara (Penélope Cruz) ist einst aus Spanien in Italien gestrandet, sie hat hier niemanden sonst. Kümmert sich umso liebevoller um die Kinder. Und leidet stumm in sich hinein.

Eine Familie und eine Gesellschaft in einem tiefgreifenden Umbruch

Der Film „L’immensità – Meine fantastische Mutter“, der am 27. Juli ins Kino kommt, erzählt von einer Familie im Umbruch. In einer Gesellschaft, die ebenfalls im Wandel ist. Die Borghettis leben hier in einer neuen Siedlung, in einem luxuriösen Wohnhaus, mit spektakulärem Blick auf Rom. Aber hinter dem Haus gibt es noch die provisorischen Baracken der armen Arbeiter, die bald den nächsten Bauten weichen sollen.

Die Gesellschaft, oder doch die besseren Kreise feiern den Wirtschaftsaufschwung, frönen der neuen Freiheit. Und der sexuellen Revolution. Aber das gilt nur für die Männer, die sich auch wie Herren gerieren. Während die Frauen als Mütter verehrt oder als Huren behandelt werden. Sie müssen sich also entscheiden, welche Rolle sie einnehmen.

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Alles ist im Wandel. Und nichts ist, wie es scheint. „In jedem kleinen Ding ist immer noch etwas anderes verborgen“, lehrt eine Nonne in der katholischen Schule der Kinder, als die Schüler durch ein Mikroskop einen Zellkern betrachten sollen. Und genauso verfährt Emanuele Crialese bei seinem Film. Und beobachtet eine ganze Gesellschaft unterm Mikroskop, pars pro toto anhand einer Familie.

Zwei Frauen, die nicht mit denen ihnen zugeschriebenen Rollen zurechtkommen

Nicht nur die Eltern verstellen sich. Auch der kleine Bruder, der immer wieder hinter die Tür kackt oder ins Bett macht. Vor allem aber die zwölfjährige Tochter Adriana (Luana Giuliani). Sie glaubt, sie sei von Aliens gezeugt und nur zufällig in diese Familie geraten. Sie will auch nicht, dass man sie bei ihrem Namen nennt, oder bei ihrem Spitznamen Adri. Andrea will sie heißen, ein Name, der im Italienischen für Mädchen wie auch für Jungen gebraucht wird.

Adri zieht auch lieber Hosen als Kleider an und macht den Arbeiterkindern glauben, dass sie ein Junge sei. Ein Verhalten, das der Rest der Familie anstößig findet. Bis auf die Mamma. Die kennt das Gefühl, ausgegrenzt, fremd, ein Außenseiter zu sein. Und sie steht deshalb demonstrativ hinter ihrer Tochter.

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Immer wieder erträumt sich adri (l.) in die Fernsehshows, die er sieht. Da tritt er denn auch mal auf - als männlicher Sänger. Und die Mamma tanzt dazu.
Immer wieder erträumt sich adri (l.) in die Fernsehshows, die er sieht. Da tritt er denn auch mal auf - als männlicher Sänger. Und die Mamma tanzt dazu. © PROKINO

Zwölf Jahre lang, seit „Terraferma“, hat der italienische Filmregisseur und Drehbuchautor Crialese, der 2002 mit „Lampedusa“ bekannt wurde, keinen Film mehr gedreht. Nun aber legt er mit „L’immensità“ sein persönlichstes Werk vor. Denn er verarbeitet darin seine eigene Kindheit.

Und das Suchen und Ringen mit seiner Identität. Als der Film vergangenen September auf dem Filmfestival von Venedig Weltpremiere feierte, nutzte er die Gelegenheit, um sich als TransMann zu outen. „L’immensità“, gab er zu, war ein Stoff, der ihn sehr lange begleitet hat. „Immer war er ,mein nächster Film’“. Aber immer kam etwas dazwischen: „Irgendwie hatte ich das Gefühl, noch nicht bereit zu sein.“

Ein Familiendrama, aus dem sich erst nach und nach der Hauptkonflikt herausschält

Dann aber fühlte sich Crialese, der am Mittwoch seinen 58. Geburtstag feiert, endlich bereit. Und ihm ist ein Film von großer Wucht gelungen, der komisch und traurig zugleich ist. Das Drama taucht er in flirrende, bunte Sommerbilder, mit den peppigen Songs jener Jahre, wie ein großen Fest. Und doch werden überall Risse spürbar.

Am deutlichsten zeigt sich das in der Art, wie sich Felices Familie in Claras Erziehung einmischt, vor allem, gerade was Adri betrifft. Ein Druck, dem die Mutter bald nicht mehr standhält. Weshalb sie wegen Depressionen in eine Anstalt eingeliefert wird. Ihrem Mann kommt das ganz recht. Für die Tochter beginnt damit erst die Hölle.

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Emanuele Crialese mit seinem Star Penélope Cruz bei der Weltpremiere in Venedig, wo er sich als TransMann outete.
Emanuele Crialese mit seinem Star Penélope Cruz bei der Weltpremiere in Venedig, wo er sich als TransMann outete. © picture alliance / ZUMAPRESS.com | Cinzia Camela

Lange scheint „L’immensità“ ein ganz normales Familiendrama. Mit Penélope Cruz hat Crialese die Idealbesetzung gefunden. Eigentlich suchte er ja nach einer Engländerin – eine Außenseiterin sollte es schon sein –, dann aber traf er auf die Spanierin, die Italienisch spricht.

Natürlich muss man da sofort an Pedro Almodovár denken und an seinen Film „Alles über meine Mutter“. In „Volver“ hat Almodóvar seine Dauermuse dann sogar zur spanischen Sophia Loren idealisiert. Nun wird sie gänzlich zum Inbegriff einer italienischen Mamma. Der Film lebt auch von seinen großartigen Kinderdarstellern. Luana Giuliani, seine Adri und sein Alter Ego, hat Crialese aus 3000 Kindern ausgewählt.

Flucht in Fernsehshows - und eine große Liebeserklärung. An die Mamma. Und an das Leben

Erst nach und nach schält sich das Hadern dieses Kindes mit seiner Geschlechtsidentität als Hauptkonflikt des Films heraus. Und mit dessen vehementer Ablehnung vermeintlich tradierter Rollenbilder werden nach und nach die ganzen scheinheiligen Werte der Familie und der Gesellschaft infrage gestellt. Nichts ist echt, alles ist Fake. Selbst die Songs aus den Fernsehshows sind nur Coverversionen von US-Hits.

Aber diese kulturelle Aneignung kann man auch kapern. In den schönsten Momenten des Films träumt sich Adri in solche TV-Shows, tritt dann natürlich als Mann auf und singt, während die Mamma dazu tanzt. Eine der Nummern ist „Love Story“. Eine Liebeshymne. An die Mutter. An das Leben. Und an die Möglichkeiten, die es einem bietet.

Filmdrama, Italien 2022, 105 min., von Emanuele Crialese, mit Penélope Cruz, Vincenzo Amato, Luana Giuliani, Alvia Reale