Hamburg. Drei Wochen läuft „Die Namenlosen – Verfolgt in Hamburg“ beim Internationalen Sommerfestival. Stück spielt während des NS-Terrors.
Scheinbar verlassen ruht der ehemalige Kakaospeicher auf dem Baakenhöft. 2017 wurde er anlässlich des Festivals Theater der Welt bereits für Theatervorstellungen genutzt. Derzeit spielt sich im Innern Bedrohliches ab.
Es ist das Jahr 1939 in Hamburg, das Jahr des deutschen Überfalls auf Polen. In der Firmenkantine einer Porzellanfabrik mit volkstümlichem Gestühl und kleiner Varieté-Bühne treffen sich des Nachts „Die Namenlosen“, die bei Tageslicht ihr wahres Wesen und ihre Liebe zum gleichen Geschlecht verleugnen – aus Angst vor Repressalien.
Theater Hamburg: „Die Namenlosen“ – Publikum wird Teil des Bühnengeschehens
Zum Beispiel der Fotograf F. (Martin Finnland), der in einer (beiderseits einvernehmlichen) Scheinehe mit der berühmten Schauspielerin R. (Romy Hrubeš) lebt, sich gleichzeitig aber mit Männern trifft und sie auch – gerne unbekleidet – ablichtet.
Er findet sie unter den Arbeiterjungs aus der Porzellanfabrik an den Landungsbrücken von St. Pauli. Oder der Ladenbesitzer C. (Christopher Wurmdobler), der F. diese Fotos abkauft.
„Die Namenlosen“ läuft drei Wochen lang beim internationalen Sommerfest
Und schon steckt man mittendrin im neuen Theaterstück der Wiener Gruppe Nesterval um den künstlerischen Leiter und Regisseur Martin Finnland mit dem Titel „Die Namenlosen – Verfolgt in Hamburg“, das drei Wochen lang in einer Koproduktion beim Internationalen Sommerfestival läuft.
Man schaut hier aber nicht bloß zu, man wird selbst Teil des Geschehens. Das eigene Mobiltelefon wird vorab sicher verplombt. Fotos sind unerwünscht.
Anschließend wandert man drei Stunden lang als Teil eines 100-köpfigen Publikums, in kleine Gruppen aufgeteilt, mit dem 21-köpfigen Ensemble, das fiktive, gleichwohl historisch sehr genau recherchierte Charaktere verkörpert, durch ein von schwarzen Vorhängen gesäumtes Gänge-Labyrinth aus 25 Räumen. Durch Vorhänge betritt man berauschend realistische Fin-de-Siècle-Wohnungen, ein Ladenlokal, einen Elb-Strandkorb oder eine mit Schreibmaschinen gesäumte Verhörstelle der Polizei, die sich hier – wir sind ja in Hamburg – im Stadthaus befindet.
Alle Gäste befinden sich am Anfang in einer Gefängniszelle
Mit einer unheimlichen Gefängnisszene für alle fängt es an. Dann winkt einen schon der Obersturmbannführer Dietrich Wagner (Sven Diestel) heraus. In einer kleinen Gruppe geht es in seine Stube, wo er ein wenig mit der Haushälterin flirtet und von der „neuen Zeit“ faselt.
Aber auch von dem, was bis dahin noch zu tun sei: Reinigung, Säuberung von angeblich „volksfeindlichen Elementen“, zum Beispiel von Menschen, die ein angeblich „widernatürliches Verhalten“ zeigen.
Dann kommt schon die Schauspielerin R. herein, wiederum mit Publikumsteilen im Schlepptau, schüttelt ihre langen Locken und raucht nervös. Höchst unangenehm wird sie von dem Nazi nach ihrem Mann, dem Fotografen F., befragt. Noch bleibt sie standhaft, später wird sie über Verrat nachdenken. Und bald wird der Kommissar Karl Seiringer (Martin Walanka) versuchen, F. mit einer Badewannen-Folter ein Geständnis abzuringen.
Nesterval bespielen das Genre seit zwölf Jahren mit Erfolg
All diese Szenen greifen wie an einem Filmset mit vielen suggestiven Sounds und exaktem Licht perfekt ineinander. Die Figuren begegnen einander in immer neuen Kombinationen, und man kann sich entschließen, statt dem Nazi und damit der Täterperspektive zu folgen, auf F. umzuschwenken.
Obwohl am Ende jeder ein anderes Theaterstück erlebt, formt sich am Ende ein Bild der Geschichte. Dieses sogenannte „immersive“ Theater hat durch Gruppen wie Signa enorme Popularität erlangt. Auch Nesterval bespielen das Genre seit zwölf Jahren mit Erfolg.
Mit „Die Namenlosen“ ist ihnen ein eindringliches Panoptikum des Schreckens gelungen, historisch tiefgreifend, intensiv recherchiert und durchweg überzeugend. Reale Begebenheiten und Menschen hinter dem Stück sind eingewoben in die Erzählung.
Die linientreue Nationalsozialistin Martha Nesterval (Aston Matters) soll darin ihren Neffen S. (Sophie Riedl) an die Leine nehmen und in die Spur bringen. Der wiederum findet Zuflucht in der Firmenkantine mit ihrem geheimen Nachtleben.
Eintauchen in Fantasien und Wahnvorstellungen der Charaktere
Doch der zwielichtige Kommissar hat Verdacht geschöpft. Einen nach dem anderen bestellt er zum Verhör. Entscheidet bald über grausame Schicksale: Den einen droht Kastration, andere werden nach Kriegsausbruch zu Kanonenfutter an der Front, oder sie werden ins KZ Neuengamme deportiert. Als Besucher wird man unweigerlich in die Geschichte hineingesogen.
Immersives Theater bedeutet auch, sich nicht nur an die Seite der von Schauspielern dargestellten Charaktere zu begeben, sondern auch in ihre Gedankenwelten und Fantasien einzusteigen – manchmal auch in ihre Wahnvorstellungen. Man spürt, wie schleichend Misstrauen und Angst vor Denunziation, schließlich Opportunismus um sich greifen.
Natürlich wirkt manches verkürzt. Einige Figuren geraten differenzierter, andere schablonenartiger. Auf vorhersehbare Weise spitzt sich das Geschehen immer weiter zu. Bei „Die Namenlosen – Verfolgt in Hamburg“ steht aber nicht ein wendungsreicher Plot, sondern die einbeziehende Erzählweise im Zentrum.
Theatrale Geschichtsstunde wider den Popularismus
In unmittelbarer Nähe zum Kakaospeicher befindet sich im heutigen Lohsepark die ehemalige Deportationsstelle Hannoverscher Bahnhof, von wo aus die Nationalsozialisten über 8000 Jüdinnen und Juden, Sintize und Sinti sowie Romnja und Roma aus Hamburg und Norddeutschland in Gettos, Konzentrations- und Vernichtungslager deportierten. Verfolgung und Ermordung waren auch hier die Realität homo- und transsexueller Menschen.
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Am Ende dieses Theaterabends werden in einem starken Bild die „Namenlosen“, die im Stück nur Anfangsbuchstaben tragen, einen Namen haben und für alle Teilnehmenden wohl für immer unvergessen sein. Ein absolut dringlicher, sehr tief und schmerzlich berührender Theaterabend der zugleich Erinnerung, Gedenken, Trauerarbeit ist. Angesichts dieser theatralen Geschichtsstunde ist man – zumal in Zeiten, in denen Populisten mit scheinbar einfachen Lösungen wieder Zulauf finden – mehr denn je aufgefordert, wach zu bleiben, weil sich derlei niemals wiederholen darf.
Die Vorstellungen bis zum 26. August sind ausverkauft. Es gibt eine Warteliste. Internationales Sommerfestival 2023 Bis 27.8., Programm und Karten unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de