Hamburg. Der Autor bringt einen Band mit seinen eindrücklichsten Erzählungen heraus.
Wenn literarische Figuren mit der Vergangenheit nicht klar kommen, verspricht dies immer interessant zu werden. Oder sagen wir besser: meistens. Und sagen wir: Nicht bezüglich der Art von Vergangenheitsfrust, die Menschen zum Psychotherapeuten rennen lässt. Man muss ja nicht immer gleich eskalieren. Aber doch wohl über die Familie reden! Denn um die geht es ja immer.
Die Figuren des Schriftstellers Maxim Biller sind von mancherlei Verlusten geplagt, von Brüchen in ihren Lebensläufen. Sie sind melancholisch, sinnen nach Vergeltung, sind mal frei, weil heimatlos, mal eher das Gegenteil davon. Zuletzt veröffentlichte Biller, der 1960 in Prag geboren wurde, mit zehn Jahren nach Hamburg kam und über München nach Berlin weiterzog, sein bedauerlicherweise abgesoffenes, aber grandios aufgeblähtes, allein aufgrund der Erzählgeilheit bemerkenswertes Großwerk „Biografie“ und wenig später den kleinen Roman „Sechs Koffer“.
Beide behandelten auf unterschiedliche Weise den Umstand, Teil einer Familie zu sein. „Sechs Koffer“, dessen erzählerischer Fluchtpunkt die Hinrichtung von des Erzählers Großvater in der Sowjetunion des Jahres 1960 ist, stand 2018 im Finale des Deutschen Buchpreises.
Glanzstücke des besten deutschen Erzählers
Billers Stammverlag Kiepenheuer & Witsch bringt jetzt einen Band mit einem Best of von Billers Erzählungen heraus. Er heißt „Sieben Versuche zu lieben: Familiengeschichten“, eine klare Engführung auf Billers unbestritten bestes Thema also. Und richtig auch, die Stücke, die aus den Jahren 1990 bis 2007 und verschiedenen Erzählungsbänden stammen, nun erneut unters Volk zu werfen. Es soll ja jüngere Leserinnen und Leser geben, die Biller nur als Krawallschachtel aus dem „Literarischen Quartett“ oder als einen bemerkenswert wenig auf die eigene Beliebtheit gebenden Autor kennen. Sie alle können dank „Sieben Versuche zu lieben“ nun Glanzstücke eines der besten deutschen Erzählers entdecken, der bereits in jüngeren Jahren ein glänzender Stilist war.
Beim (Wieder-)Lesen stößt man auf die Themen Billers und darf erneut staunen, wie aus der Billerbiografie große Literatur wird. Hier auf kleinem Raum, der Literaturdisziplin der wahren Meister – der Kurzgeschichte. Und Hemingwaysches Format darf man Biller hier und da tatsächlich attestieren. Muss man aber auch nicht, was soll die Vergleicherei mit den Altvorderen.
Man kann stattdessen auch ganz gegenwärtig bleiben und jenem „deutschen Schriftsteller mit großer internationaler Ausstrahlung und Relevanz“, wie Billers ehemaliger Verleger Helge Malchow diesen nennt, auch einfach als entschiedensten Mythologen des eigenen Clans in der Gegenwartsliteratur nennen. Wie Malchow richtig sagt, ist Biller nur unter anderem ein jüdischer Autor.
Das Jüdische ist nicht zu übersehen
Und dennoch, das Jüdische durchstrahlt und durchdunkelt seine oft ins Schräge verzwirbelten Geschichten, man kann es gar nicht übersehen. Billers Familie war gewaltigen historischen Kräften ausgesetzt, und das, was sich in Billers jüngsten Veröffentlichungen offenbarte, zeigt sich hier auch. Immer wieder ist es ein Sohn, der, ob er sich nun, in Prag, Hamburg oder München befindet, starken Elternfiguren gegenübersieht, die Geheimnisse in sich tragen, die ihm verschlossen bleiben.
In „Ein trauriger Sohn für Pollok“ treffen wir auf einen Mann, der als Lektor arbeitet und für einen Verlag das Manuskript des alten tschechischen Autors Holub zu prüfen vorgibt. Er weiß genau, um wen es hier geht, und er weiß sowieso, dass er den Alten durchfallen lassen wird – um seinen Vater zu rächen, der einst, im Moskau der Stalin-Zeit, von Holub verraten wurde. Holub jedoch erzählt eine ganz andere Geschichte, in der dem einen Verrat ein anderer voraus ging. Diese Geschichte in der Geschichte ist der Clou von „Ein trauriger Sohn für Pollok“. In ihr tauchen Nazis, Kommunisten und Juden auf, vor allem aber eine tragische Ménage-à-trois. Begehren und Lebenshunger hier, Konflikte und politische Verwicklungen dort: Auf zwei Zeitebenen nähert sich Biller dem Wesenskern seiner Familie.
In „Die schönen Stimmen von den Erwachsenen“ erzählt Biller beispielhaft von der Verlorenheit der Kinder, die später zu verlorenen Erwachsenen werden. Erwachsene, die ihren Eltern unhaltbare Vorwürfe machen oder auf unproduktive Weise deren Geschichte ausagieren, weil diese sie nicht zum Kern ihrer Herkunft vordringen lassen wie in „Wenn der Vater kommt“. In den Geschichten von früher hat jeder in der Familie seine eigene Wahrheit. Aber es muss gar keiner dem anderen an die Gurgel gehen. In „Rosen, Astern und Chinin“ kommt es zum glorreichen russisch-jüdischen Abend mit Ehrengast Joseph Heller in der Hamburger Schlüterstraße, wo Maxim Billers im vergangenen Jahr gestorbene Mutter Rada Biller bis zuletzt lebte.
Alte, aber zeitlose Erzählungen
Die Mama aus der Kurzgeschichte lässt er vor dem gelungenen Diner vor einem Hund Reißaus nehmen. Sie setzt sich auf die kalten Stufen eines Hamburger Altbaus: „Auf der Treppe saß sie mehr als eine Stunde, ohne zu weinen, zu klagen, zu jammern oder hysterisch zulachen. Ihr Kopf füllte sich stattdessen mit heißem Dampf, sie hob ab, stieg über die Dächer, und von dort beobachtete sie die Stadt Hamburg und ihre winterschwarze Umgebung, den breiten Elbstrom und dahinter das Meer, sie sah nach Moskau und Leningrad, sie erblickte Stakanow-Monumente, rote Transparente, ihre Schule in der Kromsskaja, ihr Geburtshaus, sie erlebte die Stunde, in der sie zum ersten Mal mit meinem Vater schlief, sie streifte Jerusalem und den Heiligen Berg, und sie warf auch einen Blick auf den jüdischen Teil des Friedhofs in Hamburg-Ohlsdorf. Woher ich das so genau weiß? Anders kann es gar nicht gewesen sein.“
Maxim Billers alte Erzählungen sind zeitlos, das verdeutlicht die nachgeholte oder nochmalige Lektüre, und nicht ins letzte auszudeuten. Das macht sie so gut.
Maxim Biller: „Sieben Versuche zu lieben: Familiengeschichten“, Kiepenheuer & Witsch. 368 S., 22 Euro