Büdelsdorf. 200 Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt gibt es auf 30.000 Quadratmetern Fläche zu erleben, auch viele aus China und der Türkei.

Nach seinem elfstündigen Flug von Peking nach Hamburg ist bei Liu Ruowang nichts von Jetlag zu spüren: Vom Hotel, wo er schnell einen Imbiss eingenommen hat, geht es direkt in die Vorwerksallee in Büdelsdorf, um „seine“ Kunst und die von 199 anderen Kolleginnen und Kollegen anzuschauen. „Für mich ist die NordArt Heimat, es ist wie nach Hause zu kommen“, sagt Liu Ruowang.

Traditionell ist Kunst aus China ein großer Schwerpunkt der NordArt, einer der größten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst, die bis zum 8. Oktober für Publikum geöffnet ist. Der Lübecker Künstler Wolfgang Gramm, der das Format vor 24 Jahren ins Leben rief, hat ein Faible für die Künstlerinnen und Künstler aus diesem Land, pflegt Kontakte zu Kuratoren und Botschaften. Und so kommt es, dass auch in diesem Jahr große Kunst aus Fernost im beschaulichen Ort nahe Rendsburg stark vertreten ist.

NordArt in Büdelsdorf: Große Kunst zum Wegträumen

Auch, wenn sich das Konzept der NordArt seit Gründung kaum verändert hat, erleben Besucherinnen und Besucher die einmalige Atmosphäre immer wieder aufs Neue: Eine Weite im 22.000 Quadartemeter fassenden Skulpturenpark tut sich auf; hier spaziert man zwischen Werkgruppen, die inmitten von saftigen Wiesen, Bäumen, Bambusfeldern und Teichen angeordnet sind – und freut sich, „alte Bekannte“ wiederzusehen wie etwa eine Gruppe von überlebensgroßen Affen.

Liu Ruowangs Skulpturengruppe riesiger Menschenaffen „Original Sin“ ist zum Markenzeichen der NordArt geworden.
Liu Ruowangs Skulpturengruppe riesiger Menschenaffen „Original Sin“ ist zum Markenzeichen der NordArt geworden. © JOERG WOHLFROMM | JOERG WOHLFROMM info@wohlfromm.studio

Der Chinese Liu Ruowang hat sie geschaffen, 2015 erlebten sie ihre Premiere in Büdelsdorf. Einfach, weil der Transport so irre aufwendig war und als Zeichen der Freundschaft, ließ der Künstler die Affen gleich auf dem Gelände. „Original Sin“ ist so etwas wie ein Markenzeichen der Ausstellung geworden. Ebenso wie die Wölfe-Gruppe „Wolves Coming“ von Ruowang reisen die Affen seitdem als Botschafter durch die Welt, einige von ihnen waren im vergangenen Jahr auf der Mönckebergstraße zu sehen.

Ausstellung gibt Einsteigern und Quereinsteigern eine Bühne

„Mr. Pinocchio“ ist das jüngste Werk, das der Künstler bei der NordArt ausstellt. Um eine sechs Meter große Pinocchiofigur laufen im Kreis herum Menschenfiguren, ebenfalls aus Cortenstahl. Die Idee dazu kam dem Künstler bei einer Reise nach Florenz mit seinem Sohn, der eine kleine Pinocchio-Figur haben wollte. Wenn Kinder lügen, was passiert dann, wenn die Kinder größer werden und mit ihnen die Lügen größer, mächtiger, ist das, was Ruowang dabei umtrieb.

Während in seinem Heimatland Ausstellungen, die einem einzelnen Künstler so viel Raum geben, undenkbar wären, hat die Karriere des NordArt-Preisträgers von 2022 in Deutschland ordentlich Auftrieb bekommen. Auch das ein Spezifikum der Ausstellung: Nicht nur etablierten Kunstschaffenden eine Bühne bieten, sondern auch und vor allem Newcomern und Quereinsteigern, damit dem Publikum immer etwas Neues präsentiert wird.

Außergewöhnliche Fotoserie über White-House-Kopien in China

Wu Guoyong ist einer von ihnen. In seinem früheren Leben war der Chinese Ingenieur für Bewässerungswesen. Mit Chinas wirtschaftlichem Aufstieg seit 1992 hat auch sein persönliches Leben eine Wendung erfahren: Er zog nach Shenzhen und ließ seiner immer da gewesenen Kunstleidenschaft freien Lauf. In den 8000 Quadratmetern großen Werkshallen der einstigen Eisengießerei Carlshütte ist seine außergewöhnliche Fotoarbeit „China’s Whitehouse Series“ (2020) ausgestellt.

Die Bilder zeigen lauter architektonische Kopien des Weißen Hauses in Washington, Guoyong hat sie an 22 verschiedenen Orten Chinas aufgenommen und rasterartig auf schwarzem Grund angeordnet. Inspiriert wurde er dazu in einem Freizeitpark seines Wohnortes, der berühmte Bauwerke aus aller Welt in Kopie zeigt. In seiner Serie sind neben prachtvollen Privathäusern auch Schulen, Anwaltskanzleien und Hotels zu sehen, was einigermaßen skurril ist.

NordArt in Büdelsdorf: Kunst aus China ist traditionell ein Schwerpunkt

„Dazu muss man wissen, dass es in China keine Schande ist, etwas zu kopieren“, erklärt Juan Zapf, die die chinesische Kunst auf der NordArt betreut. „Es zeugt, im Gegenteil, von großer Anerkennung, wenn man einen Stil nachahmt. Im übertragenen Sinne kann man also sagen, dass sich in der Kopie amerikanischer Architektur eine große Offenheit und Wertschätzung gegenüber der westlichen Kultur zeigt.“

Politisch sieht die Sache ganz anders aus; verhärtete Fronten zwischen den Supermächten China und USA. Das färbt auf andere westliche Staaten wie Deutschland ab. Auch hierzulande ist man der chinesischen Führung eher kritisch eingestellt. Dass man – unabhängig davon – auf der NordArt so viele unterschiedliche Künstler aus China erleben kann, ist ein großes Plus dieser Superlativ-Schau.

Die Kunst zeigt, was Menschen auf der ganzen Welt umtreibt

Das sieht auch Wolfgang Gramm so: „Jeder Besucher und jede Besucherin kann sich vor den Werken eigene Gedanken machen. Die Kunst drückt das aus, was die Menschen wirklich umtreibt. Am Ende stellt man fest, dass sich die Menschen auf der ganzen Welt eigentlich dasselbe wünschen: in Frieden zu leben.“ Es sei gerade eine sehr fordernde, unsichere Zeit – Kunst könne Halt geben, eine Traumwelt bieten.

So, wie etwa die utopisch anmutenden Bilder der russischen Exilkünstlerin Katerina Belkina. Die in Werder an der Havel lebende Fotografin zeigt darauf Frauen in einer weißen, unnatürlichen Umgebung. Mal ist ein Mini-Strand aufgeschüttet, schwebt ein überdimensioniertes Ei in der Luft, mal beobachtet eine Frau einen leuchtenden Planten am Himmel, hält wertvolle Kristalle behutsam im Arm. „Kann Kunst der Zerstörung widerstehen? Ist es möglich, die Welt zu ändern, ein Bewusstsein nach dem Anderen zu schaffen“, fragt sie mit ihrer Kunst.

Unter den 3000 Bewerbungen kamen dieses Jahre viele aus der Ukraine

Lilya Corneli bespielt mit ihrem Sonderprojekt „To Be A Muse“ einen eigenen Raum in der Halle. Um den Modellen, die Künstlerinnen und Künstler zu ihren berühmten Werken inspirierten, Aufmerksamkeit zu schenken, porträtierte sie im Stil von Frida Kahlo, Pablo Picasso und Tamara de Lempicka diese Musen. Durch verfremdete Details und veränderte Blickwinkel schuf sie so ganz eigene Gemälde mit einem Augenzwinkern.

Kunst einfach genießen, ohne sich mit einem bestimmten Thema auseinandersetzen zu müssen – das ist für Lebensgefährtin und Co-Kuratorin Inga Aru das Besondere dieser NordArt: „Unter den rund 3000 Bewerbungen aus dem In- und Ausland waren in diesem Jahr viele Künstlerinnen und Künstler aus der Ukraine, und natürlich sind Krieg und Zerstörung die Themen, die sie momentan bewegen. Wir haben uns aber für drei Positionen entschieden, die davon losgelöst sind.“

Der türkische Pavillon besticht durch fröhliche, leichte Kunst

Eine von ihnen ist Svitlana Galdetska. In ihrer fotorealistischen Ölmalerei hat sie sich auf atmosphärisch verdichtete Figurenbilder spezialisiert, wobei ihre beiden Töchter häufig als Modelle dienen. In „Ideal World“ etwa hat sie sie unter dem Einfluss von Licht und Schatten, Sonne und Wind in der heimatlichen Landschaft spielerisch agieren lassen.

Daneben haben sich viele Kunstschaffende mit der Corona-Pandemie auseinandergesetzt. „Wir fanden, dass das Thema jetzt zu früh ist. Die Menschen brauchen erst einmal Zeit, um das Erlebte persönlich zu verarbeiten.“ Und auch, wenn mit dem Türkischen Pavillon ein Brennpunktland ausgewählt wurde, ist die Fröhlichkeit und Leichtigkeit der dort von Kurator Kemal Tufan ausgewählten Kunst auffällig.

Ein Hund ohne Oberkörper und zerschnittene Orientteppiche

Und doch: Der zwangsläufige Rückzug während der Pandemie ins Private, auf die Familie, ist indirekt auch an vielen hier gezeigten Werken ablesbar: So hat Kadriye İnal in der Skulptur „Schlafwandler“ den Oberkörper ihrer kleinen Tochter überlebensgroß in einer Harz-Collage nachgebaut, wobei sie auf fotografische Vorlagen zurückgriff und somit einen verwirrend echten Gesichtsausdruck schuf.

Erdil Yaşaroğlu stellt seinen „Streunenden Hund“ im Türkischen Pavillon auf der diesjährigen NordArt aus.
Erdil Yaşaroğlu stellt seinen „Streunenden Hund“ im Türkischen Pavillon auf der diesjährigen NordArt aus. © JOERG WOHLFROMM i | JOERG WOHLFROMM info@wohlfromm.studio

Der türkische Künstler Erdil Yaşaroğlu steuerte zum Pavillon seines Heimatlandes seine riesige aus knallrot pigmentiertem Beton und Polyester bestehende Skulptur „Streunender Hund“ bei – wobei dem Tier der Körper fehlt. Die Beine ragen nach oben ins Leere, nur die Schnauze schnüffelt auf dem Boden. Der in Hamburg lebende Şakir Gökçebağ zerschneidet kurzerhand Orientteppiche in grafische Stücke und setzt sie zu kunstvollen Mustern wieder zusammen.

NordArt 3.6.–8.10., Kunstwerk Carlshütte, Vorwerksallee, 24782 Büdelsdorf, täglich außer Mo 11.00–19.00, Tageskarten Di–Fr 18,50/16,- (erm.), Sa/So 21,-/18,- (erm.), Verkauf an der Tageskasse oder über den Online-Shop, täglich öffentliche Führungen, www.nordart.de