In der Komödie „Die Nachbarn von oben“ wird ein zwangloser Abend zur Eheschlacht. Nur der Zuschauer kann da lachen.
Nachbarn, über die man sich ärgert, weil sie zu laut, zu neugierig, zu aufdringlich sind – dieses leidgeprüfte Problem kennen wohl viele. Aber wie dem begegnen? Ist es wirklich eine gute Idee, sie zu treffen, gar in die eigene Wohnung einzuladen, um ins Gespräch zu kommen? Auch wenn man ihnen ja eigentlich etwas sagen will, das sie wohl nicht gern hören werden?
Von einem solchen Fallbeispiel handelt „Die Nachbarn von oben“, der am Donnerstag, 1. Juni, in die Kinos kommt. Ein Film aus der Schweiz, der aber das Remake eines spanischen Films ist. Was schon zeigt, dass dieses Problem allgegenwärtig ist und überall verstanden wird.
Kino in Hamburg: Die Neuen führen ein sehr ausgeprägtes Sexualleben
Das Ehepaar Anna (Ursina Lardi) und Thomas (Roeland Wiesnekker) bewohnt eine schicke, geräumige Wohnung. Doch seit die neuen Nachbarn Lisa (Sarah Spale) und Salvi (Maximilian Simonischek) über ihnen eingezogen sind, können sie nachts nicht mehr schlafen. Weil die Neuen ein sehr ausgeprägtes Sexualleben führen und das auch laut zelebrieren. Der Musiklehrer Thomas will nach dem Unterricht in der Schule eigentlich nur seine Ruhe haben. Und staunt nicht schlecht, dass seine Frau die Nachbarn auf einen Apéro am Abend eingeladen hat.
Er staunt noch mehr, wie sie sich dafür zurechtmacht und dass plötzlich ein neuer Teppich auf dem Boden liegt. Thomas findet die Nachbarn nur „blöd“, Anna findet sie interessant. Und bis der Gatte seine Frau überreden kann, die beiden wieder auszuladen, stehen sie schon vor der Tür.
„Die Nachbarn von oben“: Es braucht Zuschauer, um Verschwiegenes auszusprechen
Schon da, quasi als Ouvertüre, erkennt der Zuschauer, dass dieses Ehepaar nach 20 Jahren in eine gefährliche Routine geraten ist. Beide sind ein wenig genervt vom anderen, haben ihre Erwartungen und Enttäuschungen aber immer ausgesessen und in sich reingefressen. Nun aber, kaum betritt das fremde Paar ihr Reich, brechen diese schwelenden Spannungen hervor. Es braucht wohl Zuschauer, um das lang Verschwiegene endlich an-, endlich auszusprechen. Und statt die anderen behutsam darauf hinzuweisen, dass sie zu laut sind, werden sie selber laut. Und zwar so laut, dass die Gäste eigentlich auf dem Absatz kehrtmachen müssten.
Aber Lisa (Sarah Spale) ist ja Paartherapeutin. Und ihr Spezialfach ist die gelungene Trennung. Darüber hat sie schon ein Buch geschrieben. Und sie glaubt, ihr Wissen jetzt auch gleich in der Praxis anwenden zu können. Was die Spannungen zwischen Anna und Thomas nur noch weiter anheizt. Auch Salvi reizt, wo er kann. Und flirtet offen mit der Nachbarin.
Die jungen Menschen führen offene Beziehung mit Gruppensex
Schließlich wird noch ein Missverständnis aufgeklärt: Nicht die Neuen sind es, die beim Sex so laut sind, sondern die wechselnden Freunde, die sie dazu einladen. Die jungen Menschen führen nämlich eine offene Beziehung mit Gruppensex. Und ungeniert laden sie auch Anna und Thomas dazu ein. Wobei für Thomas der Abend damit endgültig gelaufen ist. Während seine Frau auf die Offerte ganz offen reagiert. Damit steht der Abend gänzlich in Stichflamme.
Der Abend wird immer erhitzter. Auch ein Feuerlöscher kommt zum Einsatz
„Die Nachbarn von oben“ kann seine Herkunft vom Theater nicht verleugnen. Da ist die Nähe zu „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“. Und die direkte Vorlage „Sentimental“ hatte der Spanier Cesc Gay zunächst für die Bühne geschrieben, bevor er sie 2020 verfilmt hat.
Bis auf wenige Ausnahmen spielt der Film komplett in der Wohnung. Die aber ist groß genug, sodass es nie statisch wirkt. Dafür sorgen auch die Personenregie und die feurigen Dialoge, mit denen sich das ältere Paar durch die Wohnung treibt. Oder auch mal türenschlagend voreinander verbarrikadiert. Selbst das Filmplakat zitiert das spanische Original. Und doch hat der Drehbuchautor Alexander Seibt das ganz auf Schweizer Verhältnisse übertragen.
Mit Lust wird in diesem Film provoziert
Es ist herrlich, mitzuerleben, wie das ältere Paar ständig aneinander vorbeiredet, wenn sie immer von seinem „Fernrohr“ spricht, das doch ein Teleskop ist. Weil er so gern nach oben, in die Ferne guckt. Aber schon lange nicht mehr auf seine Frau neben sich achtet.
Und plötzlich werden da noch ganz andere, nie benannte Probleme offenbar, die doch wie ein Elefant im Wohnzimmer stehen. Das Klavier etwa, ein Beleg dafür, dass Thomas mal eine Karriere als Pianist angestrebt, aber nie erreicht hat. Weshalb es nie gespielt wird. Aber natürlich klappt Max den Deckel auf und klimpert darauf herum. Mit Lust provoziert er. Gießt Öl ins Feuer. Auch seine beruflichen Fähigkeiten als Feuerwehrmann werden noch gebraucht.
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„Die Nachbarn von oben“ ist ein Vier-Personen-Drama, das sich immer höher schraubt und dabei ständig mit neuen Wendungen überrascht. Ein Geschenk für Schauspieler, die das denn auch genüsslich auskosten. Ursina Lardi war bis vor Kurzem noch in der Berliner Schaubühne zu erleben. Schade, dass nun auch sie, wie so viele vor ihr, das Haus verlassen hat. Umso schöner, sie diese Woche gleich in zwei Filmen erleben zu können (sie spielt auch in Axel Ranischs „Orphea in Love“ eine teuflische Operndiva).
Max Simonischeks Film startet kurz nach Tod seines Vaters
Sarah Spale ist die einzige der vier Schweizer Schauspieler, die man im deutschen Film noch nicht kennt. Wohingegen Roeland Wiesnekker auch hierzulande gut beschäftigt ist. Max Simonischek hat nicht nur eine eigene Krimiserie („Laim“), sondern ist auch am Deutschen Theater Berlin zu erleben. Tragisch ist allerdings, dass sein jüngster Film nun nur zwei Tage nach dem überraschenden Tod seines Vaters Peter Simonischek startet.
Bei „Die Nachbarn von oben“ möchte man gern aus Fremdscham weggucken und schaut doch in Schockstarre fasziniert weiter. Diese vermeintlich so leichte Komödie erzählt doch so einiges. Nicht nur über die fremden Wesen in unserer allernächsten Umwelt, sondern auch über das Blind- und Fremdsein in den eigenen vier Wänden. Und über das Neu- und Wiederentdecken des allernächsten Menschen.
„Die Nachbarn von oben“, ab 12 J., 88 min., läuft im Zeise, Elbe, Holi und in der Passage