Hamburg. Der Chefdirigent der Symphoniker Hamburg über Stil-Fragen in der Klassik, Autorität und Machtspiele in seiner Branche.

Ein halbes Jahrzehnt Amtszeit ist rum, eine weitere Hälfte ist vertraglich vereinbart. Sylvain Cambreling ist als Chefdirigent der Symphoniker Hamburg mittendrin im Entwerfen einer Ära, die prägend sein soll für dieses Orchester. Daraus ergeben sich einige Fragen. Ein Gespräch über Stil und Persönlichkeit.

Hamburger Abendblatt: Wie würden Sie Ihren Dirigier-Stil beschreiben?

Sylvain Cambreling: Eigentlich darf man ihn nicht beschreiben, weil das etwas so Persönliches ist. Jede Person hat verschiedene Stile. Aber Stil muss vorhanden sein. Man könnte von einem weichen, einem aggressiven oder einem energischen Stil sprechen. Stil ist geheimnisvoll und sollte flexibel sein. Beim Dirigieren hat Stil damit zu tun, was man dirigiert, also werde ich davon nur im Plural sprechen.

Klar, man muss ein groß besetztes Stück anders dirigieren als ein kleines Kammermusikwerk, muss mit Barock anders umgehen als mit frühem Schönberg. Aber nichtsdestotrotz würde man Sie beim Dirigieren womöglich von hinten erkennen.

Ja, es hat fast mit Vokabular zu tun. Stil ist Interpretation. Man kann auch von Gesten sprechen – mit oder ohne Taktstock, breit oder klein, demonstrativ oder weich. Aber auch dabei meine ich: Ein Dirigent muss versuchen, seine Persönlichkeit verschiedenen Stilen anzupassen.

Sylvain Cambreling: „Man erhält Autorität durch das, was man weiß“

Warum ist Stilsicherheit – Barock ist anders als Schönberg – wichtig? Eine Melodie ist doch eine Melodie. Da stehen drei Viertel, zwei Achtel, eine Pause und sonst was auf dem Papier, und das ist eine Art melodische Linie. Die Begleit-Akkorde stehen fest. Das Baumaterial ist, was es ist.

Für mich fängt eine Melodie an, sobald sie zwei Töne hat und der eine nicht eine Wiederholung ist. Aber es ist komplexer, weil Stil in der Melodie hat mit einem großen Vokabular der Musik zu tun: Ist sie tonal oder atonal, ist sie rhythmisch? Haydn und Mozart – das sind schon zwei verschiedene Stile.

Geht das Stilbewusstsein bei Ihnen so weit, dass Sie für verschiedene Stücke auch verschiedene Taktstöcke nehmen würden – für eine große Mahler-Symphonie braucht man eine ausgewachsene Keule, für Beethoven genügt ein kleiner, feiner Taktstock?

Ein Taktstock ist nur ein Mittel zum Zweck, er ist auch keine Technik. Ich habe lange mit ihm dirigiert, zeitgenössische Musik oft ohne, weil man jeden Finger braucht, um verschiedene Zeichen zu geben. Jetzt dirigiere ich ohne, weil ich ein Problem mit dem rechten Daumen habe. Aber das ändert meinen Stil nicht.

Das nächste Stil-Thema: die Höflichkeit. Sie müssen jetzt keine Orchester-Namen nennen, aber: Wie bekommt ein Orchester Sie ganz schnell dazu, sauer und laut zu werden? Es gibt doch sicher Dinge, bei denen sie verlässlich an die Decke gehen.

Ja. Das ist eine Frage der Persönlichkeit. Als Dirigent sollte man nicht den Fehler begehen, jemanden zu verletzen. Autorität basiert nur auf Qualität. Man sollte immer versuchen, die Musiker und Musikerinnen zu überzeugen. Was man fragt, ist immer der Dienst an einem Werk.

Okay, aber was muss passieren, damit Sie richtig grantig werden?

In Proben bin ich immer sehr geduldig, und ich bin nie böse, wenn Fehler passieren. Was mich nervös macht: Wenn ich spüre, dass Konzentration nicht da ist. Speziell hier in Hamburg habe ich kein Problem damit. Auch nach 45 Jahren Arbeit möchte ich weiter daran glauben, dass die Musiker da sind, weil sie wollen; weil sie die Musik lieben.

Cambreling: „Schlagtechnik ist ein schreckliches Wort“

Man hört ein ganz kleines bisschen, dass Sie Franzose sind. Was ist französisch an Ihrem Dirigierstil? Ist bei Ihnen alles etwas weicher, fließender, eleganter?

Das weiß ich nicht, seit 30 Jahren arbeite ich fast nur in Deutschland, aber sehr wenig in Frankreich. Typisch französisch? Ich habe meine Art von Leidenschaft, vielleicht hat es auch etwas mit meiner Liebe zu Literatur, Philosophie et cetera zu tun. Und mit Leichtigkeit.

Haben Sie an sich selbst gemerkt, dass Sie im Laufe der Jahre ökonomischer geworden sind beim Dirigieren? Merkt man: Ich komme auch mit weniger klar, die Orchester verstehen auch so, was ich will?

Ich glaube, diese Erfahrung macht jeder Dirigent. Man merkt, dass zu viele Gesten zu viel Luft, zu viel Gymnastik unnötig sind. Es hat auch viel mit Blicken und Vertrauen zu tun. Gibt es großes Vertrauen, braucht man wenige Gesten. „Schlagtechnik“ ist ein schreckliches Wort.

podcast-image

Der Film „Tàr“ erzählt die Geschichte einer Dirigentin, gespielt von Cate Blanchett, es geht um Machtmissbrauch, um autoritäres Führen von Orchestern, darum, wie man sich benimmt in diesem Job und wie man sich lieber nicht benehmen sollte. Haben Sie den Film gesehen und eine Meinung dazu?

Nein. Ich gehe sehr wenig ins Kino. Man hat aber mit mir darüber gesprochen. Filme über Dirigenten und Musiker finde ich immer etwas schwierig, weil ich sofort merke, wenn es nicht echt ist. Über die Machtfrage gibt es nach wie vor zu viele Klischees. Heute funktioniert das nicht mehr so.

Dann stelle ich doch mal die Machtfrage: Hat es sich Ihrer Meinung nach verbessert?

Ich glaube, die Situation ist anders. Es ist nicht mehr ein Mann oder eine Frau gegen eine Gruppe. Es ist eine Zusammenarbeit. Dieses Machtproblem – vielleicht gibt es ja Kollegen, die das brauchen. Für mich spielt es keine Rolle. Man erhält Autorität durch das, was man weiß.

Chefdirigent Cambreling: „Allein bin ich nichts“

Sie sind seit 2018 Chefdirigent bei den Symphonikern in Hamburg. Ich nehme an, dass Sie den Stil des Orchesters beeinflusst haben – aber in welche Richtung? Woran erkennt man Ihre Handschrift? Es wäre schade bis tragisch, wenn sich in den vergangenen fünf Jahren nichts geändert hätte.

Ein Orchester ändert sich permanent. Es gibt neue Musiker, andere gehen, das Orchester ist jünger geworden. Und ich komme wieder auf diesen Begriff zurück: Vertrauen. Und: seriöse Probenarbeit. Mit Leichtigkeit, mit Humor, aber wir verlieren in Proben absolut keine Zeit. Jede Minute wird für das Werk genutzt.

Sind Sie nachtragend als Dirigent, örtlich anwesende Orchester ausgenommen? Wenn ein Trompeter in der Probe partout nicht macht, was Sie wollen, erinnern Sie ihn im Konzert oder später erkennbar daran?

So etwas passiert nicht oft, zumindest nicht mit meinem Orchester. Bin ich irgendwo eingeladen, kann es vorkommen, und dann verärgert es mich. Aber noch mal: Mein Beruf ist es, die Musikerinnen und Musiker zu überzeugen. Wenn sich plötzlich jemand überlegt, etwas anders zu machen, schadet das nicht mir, es schadet der gesamten gemeinsamen Arbeit. 100 verschiedene Persönlichkeiten, 100 verschiedene Willen, das müssen wir vergessen, um eine Identität zu finden. Die des Orchesters.

Nicht Ihre?

Nein, ich allein bin nichts.

Sylvain Cambreling: „Das Opernleben ist für mich vorbei“

Das Kapitel Oper scheint für Sie endgültig erledigt zu sein?

Prinzipiell habe ich mich entschieden, keine Oper mehr zu dirigieren. Das habe ich 40 Jahre lang getan, viele, viele Stücke. Dieses Opernleben ist für mich vorbei.

Sie sind seit 2018 bei den Symphonikern und haben bis mindestens 2028 verlängert, dann werden Sie jugendliche 80 sein, ein Alter, in dem Günter Wand beim NDR noch mal durchgestartet ist. Was ist ab 2028? Soll das der letzte Posten für Sie gewesen sein oder geht es weiter?

Ich habe jetzt keine Pläne, aber auch keine Ahnung, ob ich 2028 aufhören werde. Ich lebe meinen Beruf, ich liebe das, ich liebe die Menschen, mit denen ich arbeiten kann, ich liebe es, auf der Bühne zu sein und den Kontakt mit dem Publikum. Das alles liebe ich über alles. Wenn ich gesund bleibe, sehe ich keinen Grund, warum ich aufhören sollte.

Nächstes Cambreling-Konzert: 25.5., 19.30 Uhr, Werke von Filidei, de Falla und Beethoven. Laeiszhalle, Gr. Saal. www.symphonikerhamburg.de