Hamburg. Der Dramatiker wollte bei Flimm Regie studieren, doch der wollte ihn nicht. Am St. Pauli Theater erinnert Rinke genüsslich an die Schmach.

Eine Theaterlegende muss man mit Lachen, Tränen und Standing Ovations verabschieden. Am Sonntagabend gelang das am St. Pauli Theater auf eine rührende, lustige, traurige, lange, angemessene Art und Weise. Freundinnen und Freunde, Weggefährten und Mitstreiter erinnerten sich an Jürgen Flimm, der Anfang Februar im Alter von 81 Jahren gestorben war. Lesen Sie hier den persönlichen Abschiedstext des deutschen Dramatikers und Schriftstellers Moritz Rinke – der, womöglich als Einziger der Anwesenden, tatsächlich nie mit Flimm gearbeitet hatte.

Sommer 2022. Jürgen Flimm und ich gehen in seine kleine italienische Bar in der Bleibtreustraße, nahe seiner Wohnung in Berlin. Nachdem wir auf den Aufstieg von Werder Bremen angestoßen und den Schonwiedernichtaufstieg des HSV etwas belächelt haben, erzählt er, wie meist, alte Theatergeschichten, während sein Rollator neben uns steht und ganz unstimmig zu all den lebendigen, tollen Geschichten wirkt.

Und ich erzähle selbst eine Flimm-Geschichte, ich sollte sie in seiner Gegenwart überhaupt ganz oft erzählen und an diesem Tag sogar dem Kellner der italienischen Bar.

Moritz Rinke lernte sogar einen Satz aus einer Flimm-Kritik auswendig

Ich wollte nämlich beim großen Flimm studieren! Er hatte einen Studiengang Regie in Kooperation mit dem Hamburger Institut für Theaterwissenschaft, das von einem Professor Brauneck geleitet wurde, der Standardwerke herausbrachte, die ich für die Aufnahmeprüfung alle gelesen hatte.

Und natürlich las ich alles über die berühmtesten Flimm-Inszenierungen, zum Beispiel „Platonow“ von Tschechow. Ich lernte sogar einen Satz aus einer Kritik auswendig: „Kaum je wurde die sterbenskomische Lebenslangweile der Tschechow-Figuren in über fünf Stunden derart kurzweilig vorgeführt.“

Vor der Prüfung hatte ich den Alt-Intendanten Kurt Hübner gesehen, er lief durch das Foyer der Bremer Shakespeare Company, wo die Mutter meiner ersten Freundin Sekretärin war. Hübner sprach ich sofort auf meine Hamburger Prüfung über den Bremer „Torquato Tasso“ an, der ja in Hübners Amtszeit stattgefunden hatte.

Ob Rinke die Prüfung bestehen würde, war egal: weil die Welt bald sowieso unterginge

Dann kam einer dieser berüchtigten Hübnermonologe: Peter Stein sei ein Demagoge gewesen, der ihn, Hübner, mit diesen Mitbestimmungsreden zur Weißglut gebracht habe, weil er, Hübner, ja den Fortbestand des Theaters sichern musste, und im „Torquato Tasso“ hätte sich Stein an ihm, Hübner, gerächt, aber es sei ohnehin egal, ob ich die Prüfung bestehe, weil die Welt bald sowieso unterginge und das Theater gleich mit.

„Jetzt komm ich gleich ins Spiel!“, sagt Flimm voller Vorfreude

„Jetzt komm ich gleich ins Spiel!“, sagt Flimm voller Vorfreude dem italienischen Kellner, der dasteht mit Tablett und sich die ganze Geschichte anhören muss.

In der Prüfung hatte ich dann alles, was Hübner gesagt hatte, zu Flimm gesagt; auch, dass ich nach der Prüfung möglichst schnell am Thalia-Theater inszenieren muss, weil das Theater bzw. die Welt bald untergehen würden.

Flimm sah mich zerknirscht an, das konnte er ja, zerknirscht gucken und im gleichen Moment in die Heiterkeit umschlagen, aber bei mir gab’s keine Heiterkeit, ich war durchgefallen.

Moritz Rinke hatte gehört, dass Jürgen Flimm sogar mit Otto Rehhagel befreundet war

Ein Jahr später bewarb ich mich wieder. Ich hatte gehört, dass Jürgen Flimm sogar mit dem großen Fußballlehrer Otto Rehhagel befreundet war, eine der, wie es hieß, „tiefsten Freundschaften zwischen Kultur und Sport seit der Begegnung von Brecht und Max Schmeling“, das wollte ich in der Prüfung unbedingt strategisch erwähnen und einsetzen. Aber nach zwei Minuten Prüfzeit sagte Flimm zu Professor Brauneck: „Woher kenne ich dieses Gesicht?“

„Ach“, antwortete Brauneck, „der junge Mann hatte uns das letzte Mal den Weltuntergang prophezeit, aber ich finde ihn für das Theater eigentlich ganz interessant, darum habe ich ihn noch mal eingeladen.“

„Ah ja …“, murmelte Flimm und sah mich noch zerknirschter an, als er bei der letzten Prüfung schon zerknirscht ausgesehen hatte. „Otto“, warf ich noch ein, „Otto Rehhagel! … Sie, Otto, Brecht und Schmeling!“, ich zitierte noch schnell: „Kaum je wurde die sterbenskomische Lebenslangweile der Tschechow-Figuren in über fünf Stunden …“,

„Wer hat diesen berühmten Satz gesagt?“, fragte Flimm plötzlich

„Wer hat diesen berühmten Satz gesagt?“, fragte Flimm plötzlich. „Das Runde muss ins Eckige. Otto Rehhagel oder Sepp Herberger?“ „Rehhagel!“, antwortete ich, wie aus der Pistole geschossen. „Falsch, Herberger“, sagte Flimm. „Von Rehhagel stammt: Der Ball muss ins Tor.“ Wieder durchgefallen!

Zwölf Jahre später nahm Flimm nach einer glanzvollen Ära Abschied vom Thalia-Theater in Hamburg, und der neue Intendant ließ zur Eröffnung das Stück eines jungen Autors uraufführen. Es war zufällig meins. Ich saß in der Loge, der Stuhl neben mir war noch frei. Und wer kam plötzlich und setzte sich neben mich?

„Ist die Geschichte nun zu Ende?“, fragt der Kellner in der Bar.

„Ja, eine wirklich schöne Theatergeschichte!“, sagt Flimm, stellt sich hinter seinen Rollator und tippelt davon.

Wir sind uns nie wieder begegnet. Aber ich sehe ihn noch heute neben mir in jener Loge sitzen. Er wirkte zerknirscht, aber für mich war es der größte Tag in meinem Leben – und den hatte ich zum Teil mit Jürgen Flimm verbracht. Den vierten Akt des Stücks hielt er im Übrigen für missraten, durchgefallen.

Moritz Rinke, Jahrgang 1967, ist Schriftsteller und Dramatiker. Sein Stück „Republik Vineta“ feierte im Jahr 2000 Uraufführung am Thalia Theater. Zuletzt erschienen sein Roman „Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García“ und die Textsammlung „Unser kompliziertes Leben“ bei Kiepenheuer & Witsch.