In Hamburg läuft eine starke und sinnliche Verfilmung des Erfolgsromans „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ an.

Es ist Sommer. Die Sonne brennt, die Hitze flirrt, das Getreide wogt gülden auf den weiten Feldern. Nicht nur die Menschen in diesem Film, die Bilder selbst scheinen zu schwitzen. Und irgendetwas liegt spürbar in der Luft. Ist es Befreiung? Oder Niedergang? Es ist der Sommer 1990, die Zeit zwischen der Währungsunion und dem Beitritt der DDR zur Bundesrepu­blik. Und die Erwachsenen hier auf dem Land, im Thüringischen, sprechen von nichts anderem als den Veränderungen und Umwälzungen, die auf sie zukommen.

Nur die 18-jährige Maria (Marlene Burow) kriegt von alldem nichts mit. Traumwandlerisch streift sie durch Wiesen und Felder. Die Familie ihres Freundes Johannes (Cedric Eich) hat sie, weil sie ein schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter hat, auf ihrem Bauernhof aufgenommen. Sie könnten jemanden brauchen, der auf dem Hof mit anpackt. Dafür jedoch ist das Mädchen nicht geeignet.

Kino Hamburg: Eine doppelte Coming-of-Age-Geschichte

Maria schwänzt lieber die Schule. Und liest Dostojewski. Keiner auf dem Hof, außer Johannes natürlich, glaubt, dass sie bleiben wird. Maria wird wohl nach Berlin gehen, in den Westen oder gleich ins Ausland. Ist ja jetzt alles möglich. Tatsächlich ist sie schon jetzt nicht mehr ganz da.

Emily Atefs neuer Film „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ ist eine doppelte Coming-of-Age-Geschichte. Weil er von gleich zwei großen Umbrüchen erzählt: dem einer Jugendlichen in der entscheidenden Phase zum Erwachsenwerden – und dem eines Landes, das in Auflösung begriffen ist. Das ist schon mehr als genug für einen Film. Aber dann kommt noch ein echtes Tabuthema hinzu. Eine verhängnisvolle Affäre mit einem Mann, der wesentlich älter ist als Maria, der ihr Vater sein könnte. Und der das ist, was man heute toxisch nennt.

Auf der Berlinale sorgte dieser Film für Diskussionen

Auf einem ihrer Streifzüge steht er plötzlich vor ihr: Henner (Felix Kramer), der Bauer vom Nachbarhof auf der anderen Seite der Bahngleise. Seine zwei Hunde, die sie fast angefallen haben, pfeift er zurück, beruhigend legt er die Hand auf die Schulter des ängstlichen Mädchens. Aber dann wandert die Hand weiter, streift über ihre Brüste. Und es ist um beide geschehen. „Mach mit mir, was du willst“, sagt Maria einmal. Ein Satz, der bei der Premiere des Films auf der Berlinale für viel Diskussion gesorgt hat. Wie auch der erste Liebesakt der beiden, in dem Henner Maria roh und brutal nimmt.

Hätte ein Mann diesen Film gedreht, man würde von einer Altherrenfantasie sprechen. Aber „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ stammt von zwei Frauen, von Emily Atef und Daniela Krien, die die gleichnamige Romanvorlage und mit der Regisseurin auch das Drehbuch geschrieben hat.

Und beide erzählen ganz aus der Perspektive des Mädchens. Und schon bald bestimmt eben nicht der Mann, wo es langgeht, sondern Maria, die zwar Grenzen erkunden und ausloten will, aber auch ganz klar welche zu setzen weiß. Und plötzlich ist es der ältere Mann, der schwach und verletzlich wirkt.

Die sinnliche Liebe eines ungleichen Paares

Diese unmögliche Liebe wird ebenso sinnlich gezeigt wie die starken, satten Landschaften. Die Kamera von Armin Dierolf schwelgt in den flirrenden Sommerbildern. Und rückt auch diesem ungleichen Paar ganz dicht auf den Leib. Das eigentliche Tabu aber, das wird schon bald klar, ist gar nicht eine toxische Männlichkeit oder die mögliche Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses – es ist das weibliche Begehren, das man selten so auf der großen Leinwand gesehen hat. Und schon gar nicht in einem deutschen Film.

Diese sinnliche Bildersprache ist der eine große Trumpf des Films. Die Beiläufigkeit, mit der die großen Umwälzungen jener Tage anklingen, der andere. Denn da sind, immer wieder, die besorgten Gespräche, auf dem Hof, am Küchentisch. Keiner glaubt an die versprochenen blühenden Landschaften.

Stattdessen kommen Betriebswirte aus dem Westen, nur wenige Einheimische blicken optimistisch in die Zukunft. Johannes etwa, der an der Kunsthochschule in Leipzig studieren will und von seinem ersten Westgeld eine teure Fotokamera kauft, mit der er seine Heimat und seine Freundin fotografiert – ohne wirklich zu erkennen, was er da in seinen Bildern festhält.

Verlierer, die sich nichts von der Wiedervereinigung versprechen

Marias Mutter (Jördis Triebel) dagegen hat durch die Wende ihren Job verloren. Und wenn Henner mit seinen Kumpels in der Kneipe hockt, sitzt da einer, der verbittert ist. Verlierer, die sich nichts von der Wiedervereinigung versprechen. Und dazwischen das junge Mädchen, das noch nicht weiß, wohin es will. Und sich in diese fatale Liebe stürzt. Es ist ein Schicksalssommer.

Und es herrscht Anarchie, auch an der Schule. Warum soll Maria noch zum Unterricht gehen, wo immer mehr Lehrer fehlen, die schon in den Westen gegangen sind? Und dann ist da noch die berührende Nebengeschichte, als plötzlich Westbesuch auf den Brendel-Hof kommt: der Lieblingssohn der Großmutter aus ihrer ersten Ehe, der vor vielen Jahren in den Westen geflohen ist. Und nun erstmals wieder vor der Mutter steht.

Kino Hamburg: Die zweite Hauptrolle, in der Marlene Burow überzeugt

Skeptisch beobachtet von ihrem zweiten Mann und dessen Sohn, der nun den Hof führt. Wo sich aber doch eine zarte Annäherung zwischen Ost und West abzeichnet. Die ungleiche Beziehung zwischen Maria und Henner hingegen läuft scheinbar unaufhaltsam auf eine Katastrophe zu. Die sich dann entlädt wie ein Gewitter, das die ganze Zeit über den flirrenden Sommerbildern hängt.

Schon seltsam. Nach dem Mauerfall gab es eine Zeit lang keine Filme über die Wendezeit. Dann kamen Brachialkomödien, als ob man sich die Jahre der Teilung und der Diktatur von der Seele weglachen musste. Später bestimmten Stasi-Dramen die wenigen Filme zum Thema.

Aber mit einem gewissen zeitlichen Abstand sehen wir nun immer mehr Filme mit einem anderen unvoreingenommeneren Blick auf die Wende- und Nachwendezeit. Wie Andreas Dresens „Als wir träumten“ (2015) oder kürzlich „In einem Land, das es nicht mehr gibt“ (2022), in dem Marlene Burow in ihrer ersten Hauptrolle zu sehen war. Schon dort hat sie überzeugt.

Wie darf man weibliches Begehren zeigen?

In „Irgendwann...“ folgt nun ihr zweiter großer Auftritt. Fast schon ein Skandal, dass dieser aufregende Shootingstar für den Deutschen Filmpreis, der im Mai verliehen wird, nicht einmal nominiert ist. Wie auch der Film insgesamt völlig übergangen wurde. Wie sich die Filmakademie bei Lars Kraumes „Der vermessene Mensch“ wohl um eine Diskussion über Rassismus und Kolonialschuld drückt, tut sie es hier auch – vielleicht aus Angst vor einer Debatte um toxische Männlichkeit und Political Correctness und darüber, wie man weibliches Begehren zeigen darf.

„Irgendwann werden wir uns alles erzählen“, ab 16 J., 133 min., läuft im Zeise