Hamburg. Die alten Griechen als Mammutprojekt: Karin Beier inszeniert die Theater-Serie „Anthropolis“ und plant noch vieles mehr.
Dass man als Theaterkritikerin schon am Vormittag zum Ouzo-Trinken angehalten wird, kommt – allen Vorurteilen über die Kultur- und Medienbranche zum Trotz – dann doch eher selten vor. Am Deutschen Schauspielhaus ist am Freitag allerdings die Intendantin die erste, die zur Spielzeitpressekonferenz das kleine Glas hebt, auf den Tischen stehen Oliven und sogar ein paar gefüllte Weinblätter. Alles für die Kunst! Denn das Programm, dass sich Karin Beier und ihr Dramaturgen-Team für die kommende Saison ausgedacht haben, ist nicht nur ziemlich griechisch, sondern vor allem: hochprozentig.
Das Schauspielhaus widmet sich in der Spielzeit 2023/24 dem Konstrukt „Stadt“ und wird den Scheinwerfer insbesondere auf eine Stadt richten: Theben, mitten hinein also in die Gründungsmythen der europäischen Zivilisationsgeschichte. Und weil in Theben, dieser Stadt im Dauerkrisenmodus, dann doch recht viel los war, wird es dazu nicht einfach eine Inszenierung geben. Sondern – auch am Schauspielhaus hat man den Siegeszug von Netflix und Co und die Sehgewohnheiten des Publikums sehr genau registriert – eine komplette Serie: „Anthropolis“.
An den „Netflix“-Sehgewohnheiten nimmt sich das Schauspielhaus ein Beispiel
Die alten Griechen in fünf Folgen, ein ambitioniertes Mammutprojekt mit dann zweijähriger Vorbereitungszeit, für das als „Headautor“ der Dramatiker und Schriftsteller Roland Schimmelpfennig verpflichtet wurde (neben Aischylos, Sophokles und Euripides, versteht sich). Regie führt in allen fünf Folgen Karin Beier selbst, die daher während der gesamten derzeit laufenden Saison keine andere Inszenierung übernommen hatte. Vier der fünf Folgen sind bereits geprobt, die Proben für Folge 5 beginnen im Mai – der Anis-Schnaps ist also schon jetzt verdient.
Staffelstart des Uraufführungsreigens von „Anthropolis – Ungeheuer. Stadt. Theben“ ist am 15. September mit einem Prolog („Was bisher geschah“) und der ersten Folge: „Dionysos“. Alle 14 Tage soll es anschließend eine neue Episode geben, auf „Dionysos“ folgen „Laios“ mit Lina Beckmann (29.9.), „Ödipus“ mit Devid Striesow in der Titelrolle (13.10.), „Iokaste“ (27.10.) und „Antigone“ (10.11.). „Es wäre toll, wenn die Leute kommen und die Serie als Serie gucken – aber natürlich funktioniert auch jeder Teil für sich“, erklärt die Regisseurin.
Wie „Netflix“ – schon im alten Athen war mehrtägiges Theater durchaus üblich
Und auch jene, die vom Streamen das „Binge Watching“ gewöhnt sind, also das Verschlingen von mehreren oder gar allen Episoden am Stück, werden bedient: An vier bereits feststehenden Wochenenden wird es – jeweils verteilt auf Freitag, Sonnabend, Sonntag – alle fünf Folgen als Serienmarathon geben. Fun Fact für die Netflix-Generation: Diese Art von Binge Watching ist keine Erfindung der Gegenwart, schon bei den städtischen Dionysien im alten Athen war mehrtägiges Theater üblich. Die Schauspielhaus-Serie ist ab sofort im Vorverkauf.
Apropos Serie: Zwar ist „Anthropolis“ fraglos als spektakuläres Highlight der kommenden Schauspielhaus-Spielzeit vorgesehen, aber auch die weitere Programmplanung macht große Lust. Wer womöglich die „Apple+“-Serie „Dickinson“ gesehen hat, wird sich zum Beispiel über Christoph Marthalers neues Stück freuen: „Im Namen der Brise“ beschäftigt sich ebenfalls mit der amerikanischen Dichterin Emily Dickinson. Marthaler knüpft damit an seinen Hölderlin-Abend „Die Sorglosschlafenden, die Frischaufgeblühten“ an. Premiere ist am 14. Oktober im Malersaal.
In Rothenburgsort entsteht ein Theaterdorf für vermeintlich Pubertierende
Wenige Tage später stellt die Gruppe SIGNA, die mit ihrer Hamburger Performance-Installation „Die Ruhe“ im vergangenen Jahr zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde, ihre neue immersive Stückentwicklung vor. „Das 13. Jahr“ von Signa und Arthur Köstler ist gewissermaßen das Komplementäruniversum zur Krisenstadt Theben. In der Billstraße in Rothenburgsort entsteht dafür ein pittoreskes Dorf, die Zuschauer und Zuschauerinnen werden den dort lebenden Familien zugeteilt – jedoch nicht mit ihrem realen Alter, sondern als Teenager im 13. Lebensjahr. Zurück zur Pubertät mit dem Theater Ihres Vertrauens.
Und auch die Gruppe Rimini Protokoll, Experten des Alltags auf der Bühne, ist mit einer frischen Arbeit im Spielplan vertreten. Ihr Projekt „Société Anonyme“ widmet sich den düsteren Seiten der Stadt, dieser Stadt, es erzählt in einer Dunkelkammer von Menschen aus Hamburg, die gerade nicht gesehen werden wollen. Aus Scham oder Sicherheitsgründen zum Beispiel, Menschen, die den Schutz der Anonymität brauchen. Die im Dunkeln sieht man nicht, heißt es bei Mackie Messer – hier aber hört man im Malersaal zumindest ihre Geschichten.
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Zu den vielversprechenden Premieren, auch wenn hier ebenfalls noch einiges im Dunkeln liegt, gehört außerdem eine Inszenierung des oft ausgezeichneten Regisseurs Jossi Wieler, der seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr am Schauspielhaus inszeniert hat. 1994 war Wieler für seine Hamburger Jelinek-Arbeit „Wolken.Heim“ zum Regisseur des Jahres gewählt worden – was er im Januar 2024 hier auf die Bühne bringen wird, hält das Theater noch unter Verschluss.
„Hinter jedem großen Idioten gibt es Frauen, die ihn am Leben halten“
Der Regisseur Viktor Bodo kann immerhin schon einen Arbeitstitel vorweisen: „Die gläserne Stadt“, eine Gogol-Überschreibung von Felicia Zeller. Merken sollte man sich allerdings vor allem den weitschweifigen Untertitel einer knalligen Komödie, die im Original „POTUS“ heißt (kurz für: President of the United States). Am Schauspielhaus kommt die Farce der US-amerikanischen Autorin Selina Fillinger auf die Bühne als „Die Schattenpräsidentinnen – Oder: Hinter jedem großen Idioten gibt es sieben Frauen, die versuchen, ihn am Leben zu halten“.
Den bösen Abgesang auf das Patriarchat wird zum Premieren-Finale im April die Regisseurin Claudia Bauer inszenieren, die mehrfach zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde (zuletzt mit ihrem gefeierten Wiener Jandl-Abend „humanistäää“) und damit zum ersten Mal am Schauspielhaus arbeitet. So wie auch die junge Dramatikerin Anne Jelena Schulte und der Nachwuchs-Regisseur Henry Morten Oehlert, die ihr Debüt mit einem weiteren Blick in Richtung Theben und Zeus geben: „Antiope“ hat im Frühjahr Premiere im Rangfoyer.
Der Ouzo (der, zugegeben, zur Spielzeit-Pressekonferenz ohnehin nur höchstens fingerbreit ins Gläschen kam) darf also getrost als ein symbolisches Prosit auf die altgriechischen Mythen und Tragödien verstanden werden. Schöntrinken muss man sich dieses Schauspielhaus-Programm jedenfalls nicht.