Schleswig. „Paris. New York. Grenzenlos“ fächert den Kosmos des Ausnahmepaares auf – und präsentiert ein unvollendetes Kunstwerk.

Was hatte man erwartet? Eine in weißes Tuch verpackte Skulptur im Park, einen Parcours aus dahliengelben Flaggen, unter denen man zur Ausstellung gelangt? Oder gar das ganze Schloss Gottorf eingehüllt? Das wäre natürlich zu plump.

Wie aber nähert man sich einem Ausnahmepaar der internationalen Kunstszene, das die Grenzen der Kunst sprengte und die Welt mit seinen Interventionen im öffentlichen Raum in Atem hielt, diese oftmals über Jahre oder gar Jahrzehnte geplanten Spektakel nach zwei Wochen jedoch wieder abbaute? Kann eine Ausstellung über Christo und Jeanne-Claude überhaupt gelingen, wenn man ihre Kunst heute nicht mehr zeigen kann?

Ausstellung über Ausnahmepaar Christo und Jeanne-Claude auf Schloss Gottorf

Mit diesen Fragen im Gepäck reiste man nach Schleswig zur Eröffnung von „Paris. New York. Grenzenlos“ – einer Ausstellung, die verspricht, den kreativen Kosmos vom Ende der 1950er-Jahre bis zu Christos Tod im Mai 2020 aufzufächern. Es ist die letzte Ausstellung, der der Künstler kurz vor seinem Tod noch zugestimmt hatte und die in Kooperation mit dem Kunstpalast Düsseldorf entstanden ist.

Kurator Ingo Borges gelingt es, das außergewöhnliche Werk lebendig zu präsentieren. Mit großformatigen Fotografien aus der Christo und Jeanne-Claude Foundation, aber auch von Fotograf Wolfgang Folz, der die meisten Aktionen des Paares exklusiv begleitete, der sozusagen das Auge, das Bildgedächtnis von Christo war.

Ausstellung erinnert an große Dimension ihres Schaffens

Die Bilder dokumentieren die Meilensteine des Künstlerpaares, angefangen bei einer Blockade mit 240 gebrauchten Ölfässern in der Rue Visconti 1962 als Reaktion auf den Berliner Mauerbau, von Christo und Jeanne-Claude mit „Eiserner Vorhang“ betitelt. Weiter geht es über die großartige Landscape Art mit Projekten wie „The Umbrellas“, 3100 blaue Schirme, die 1991 zeitgleich in einem Tal im japanischen Ibaraki und in Kalifornien aufgestellt wurden, „Über dem Fluss“ von 1999, bei der der Arkansas River in Colorado, USA, über 67,6 Kilometer mit silberfarbenen Stoffbahnen überspannt wurde, „The Gates“, mit orangenen Stoffbahnen behängte Tore, die den New Yorker Central Park 2005 in ein begehbares Kunstwerk verwandelten.

„The Floating Piers“ war ein über vier Kilometer langer, mit orangenem Stoff bespannter Steg über den Lago d’Isola in Oberitalien 2016 – es war das erste Projekt, das Christo ohne seine Frau realisierte; Jeanne-Claude starb 2009. Der Bilderbogen endet mit der Verhüllung des Triumphbogens in Paris 2021 (für die ein Lübecker Unternehmen den nötigen Stoff lieferte, worauf Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther bei der feierlichen Eröffnung stolz hinwies). Ein Triumph, den beide Künstler allerdings nicht mehr miterlebten.

„Die Überwindung und gleichzeitig Hervorhebung von Architektur durch Verhüllung“ fasst Thomas Sadowsky, Vorstand der Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen Schloss Gottorf, die künstlerische Praxis von Christo und Jeanne-Claude zusammen. Die Ausstellung ruft die unglaubliche Kraft und Dimension ihres Schaffens wieder ins Gedächtnis.

24 Jahre Warten auf die Verhüllung des Reichstages

Und ebenso die Beharrlichkeit des Künstlerduos: Auf den Höhepunkt ihrer künstlerischen Vision, die Verhüllung des Berliner Reichstages 1995, warteten Christo und Jeanne-Claude 24 Jahre. Bereits 1961 hatte sich das Paar mit der Idee getragen, ein öffentliches Gebäude zu verhüllen. Seit den 1970er-Jahren entwickelte Christo Zeichnungen und Collagen, mit denen er die Verhüllung des Reichstages visualisierte. Jeanne-Claude übernahm hier wie bei allen anderen Projekten die Kommunikation zwischen den beteiligten Akteuren.

Nach umfänglichen Debatten, zahlreichen Besuchen der beiden in Berlin und einem langjährigen Genehmigungsprozess, konnte der „Wrapped Reichstag“ realisiert werden. 90 Gewerbekletterer und 120 Montagearbeiter verarbeiteten 100.000 Quadratmeter silbrig glänzenden Stoff – dieser wurde von den Künstlern übrigens anschließend komplett recycelt (auch hier waren Christo und Jeanne-Claude zukunftsweisend). Die Intervention zog fünf Millionen Schaulustige an und wurde zu einem wichtigen Teil der Geschichte des Reichstagsgebäudes.

Die Bilder treten in einen Dialog mit Exponaten von Künstlern des französischen Nouveau Réalisme, deren wichtige Vertreter wie Yves Klein, Arman, César und Lucio Fontana seit den 1960er-Jahren verstärkt von Schloss Gottorf gesammelt werden. Der aus Bulgarien geflüchtete Christo Yavacheff kam mit der Kunstströmung, die sich gegen den beginnenden Massenkonsum mit verstörenden Alltagsinstallationen richtete, Ende der 1950er-Jahre in Berührung, als er sich in Paris niederließ. Dort lernte er auch seine spätere Partnerin, Jeanne-Claude Denat de Guillebon, kennen.

Sammlerin bekam ein Frühwerk Christos geschenkt

Zu Christos Frühwerk gehören die sogenannten Packages, mit Gummiband verschnürte Stoffpakete; eins davon hängt gerahmt in der Reithalle des Schlosses. Es war solch ein Package, das Ingrid Jochheim von ihrem Vater zur Hochzeit mit dem Unternehmer Thomas Jochheim geschenkt bekam. Zugegeben nicht gerade romantisch, aber für die beiden die Initialzündung, sich für Christo und Jeanne-Claude zu begeistern und intensiv mit ihnen zu beschäftigen.

„Wir besuchten so oft wie möglich ihre Lectures und Performances“, erzählt Ingrid Jochheim, die bei der Ausstellungspräsentation gemeinsam mit ihrem Mann anwesend war. Im Zuge der Reichstags-Verhüllung wuchs der Wunsch, die beiden kennenzulernen. Aus einem Cocktailabend in New York entstand eine jahrelange Freundschaft mit vielen Telefonaten und gegenseitigen Treffen in New York und Recklinghausen.

Heute besitzt das Paar, das sein Kapital aus der elterlichen Firma von Ingrid Jochheim für Heimtierfutter hat und unter anderem auch mit dem Künstler Jonathan Meese befreundet ist, eine der weltweit größten Sammlungen von Werken des Künstlerduos. Durch ihr finanzielles Engagement konnten Christo und Jeanne-Claude, die Zeit ihres Lebens auf Sponsoring verzichteten, ihre Projekte realisieren. Und sie unterstützen nun als Hauptleihgeber auch diese Ausstellung.

Tolle Erfahrung, Teil der Christo-Familie zu sein

Aus der Jochheim-Sammlung stammt etwa der VW Käfer, der mitten in die Kreuzhalle platziert wurde. Christo hat ihn 2014 mit gelben Stoff umhüllt – eine Reminiszenz an das Vorgängermodell von 1963, das Christo und Jeanne-Claude für eine Einzelausstellung in der Düsseldorfer Galerie Schmela ähnlich verhüllten. Nur dass sie den Wagen von einem Freund des Galeristen geliehen hatten und dieser ihn ein paar Tage später zurück haben wollte... Hinter dem Käfer prangt ein berühmtes Christo-Zitat an der Wand: „Viele finden die Irrationalität, die Absurdität unserer Projekte zum Verrücktwerden. Das ist genau der Grund, warum wir sie machen.“

Es sei eine unglaublich tolle Erfahrung gewesen, Teil der Christo-Familie zu sein und an den Projekten mitzuarbeiten, erzählt Matthias Koddenberg, Kunsthistoriker und langjähriger Freund des Künstlerpaares. „Ob im Restaurant oder auf der Straße – einfach jeder sprach über die spektakulären Installationen. Man war Teil einer großen Gemeinschaft.“ Ingrid Jochheim ergänzt: „Sie machten diese Kunst für sich, weil sie sie sehen wollten. Wenn andere sich auch daran erfreuten, umso besser.“ Was sie während ihrer Zeit mit dem Künstlerduo gelernt habe? „Wenn du ein Ziel vor Augen hast, bleib dran!“ Dazu passt ein von Jeanne-Claude überliefertes Zitat: „Eine Idee kann jeder Idiot haben, aber man muss sie auch umsetzen.“

Christo und Jeanne-Claude: Unvollendetes Kunstwerk auf Schloss Gottorf präsentiert

Ein letztes bisher unvollendetes Kunstwerk der beiden wird in der Ausstellung ebenfalls präsentiert: das Mega-Pojekt „Mastaba“ (ägyptisch „Bank“) für Abu Dhabi, das im Fall seiner Realisierung die Dimensionen der Pyramide von Gizeh übersteigen wird. Ein Modell veranschaulicht, wie 400.000 Ölfässer in den Sand gebaut werden sollen, sodass man das Werk aus vier Kilometern Entfernung und sogar aus dem Weltall erkennen kann.

Das Sammlerpaar ist hierfür zusammen mit der Foundation im Gespräch mit den zuständigen Scheichs. Bei so vielen Rekorden, die das Land damit vorweisen könnte, ist Ingrid Jochheim optimistisch, dass „Mastaba“ tatsächlich umgesetzt werden wird. Es wäre das einzige Kunstwerk, das auf unbestimmte Zeit als Denkmal der Kreativität von Christo und Jeanne-Claude zu erleben sein würde.

„Christo und Jeanne-Claude. Paris. New York. Grenzenlos“ bis 3.9., Museumsinsel Schloss Gottorf, Schlossinsel 1, 24837 Schleswig, Di-Fr 10.00–6.00, Sa/So 10.00–17.00, ab 1.4. Di-Fr bis 17.00, Sa/So bis 18.00, Eintritt 10,-/8,- (erm.), www.schloss-gottorf.de