Hamburg. Politisch korrekte Comics und Kinderbücher, Warnhinweise: Das passiert auch aus Angst vor dem Shitstorm, schimpft ein Kritiker.

Kürzlich machte der Illustrator Don Rosa auf Facebook öffentlich, dass Disney zwei Dagobert-Duck-Geschichten künftig nicht mehr veröffentlichen wolle. Es geht, wie die „Süddeutsche Zeitung“ berichtete, um eine Figur, die wie „die böse Karikatur eines Schwarzen“ anmute. Veränderungen hat es in Entenhausen auch vorher schon geworden. Politisch korrekt gibt es zum Beispiel mittlerweile keine „Zwergindianer“ mehr. Wie politisch korrekt müssen Comics sein? Darf man überhaupt nachträglich in Literatur eingreifen? Und was ist von der neuen Vorsicht vieler Verlage zu halten? Ein Interview mit Literaturhaus-Chef Rainer Moritz.

Hamburger Abendblatt: In dem gerade erstmals auf Deutsch erschienen Roman „Mr Loverman“, er stammt von der britischen Booker-Prize-Trägerin Bernadine Evaristo, findet sich, bevor der Text beginnt, eine Internetadresse, unter der man Anmerkungen der Übersetzerin zum Übertragungsprozess finden kann. Der Held des im Original 2013 erschienenen Romans äußert sich gerne mal misogyn und hat auch sonst ein politisch unkorrektes Mundwerk. Was halten Sie von dieser transparenten Vorgehensweise?

Rainer Moritz: Damit nicht genug. Im sehr kleingedruckten Impressum platziert der Tropen Verlag zusätzlich folgende Warnung: „Sprache und Sprachgebrauch in diesem Roman folgen der Figurenrede.“ Ich halte von all dem herzlich wenig. Die Angst, irgendjemandem mit irgendwas auf die Füße zu treten, breitet sich in den letzten Jahren auch hierzulande so aus, dass man am Verstand der Beteiligten zweifeln muss. Es gehört zu den Selbstverständlichkeiten, dass in einem Roman oder in einer Erzählung Figuren Dinge sagen, die nicht die Meinung der Autorinnen und Autoren wiedergeben. In fiktionalen Texten treffen wir permanent auf Menschen, die Seltsames, Anstößiges, Widerliches oder Misogynes äußern – so wie das Menschen betrüblicherweise im „wirklichen“ Leben tun. Es heißt, die Leserschaft für dumm zu verkaufen, wenn Verlage meinen eigens darauf hinweisen zu müssen. Wir haben es hier nicht mit Tiefkühlpizzen zu tun, die mit dem Warnhinweis versehen sind, die Plastikfolie zu entfernen, bevor man seine Margherita in den Ofen schiebt.

Es kommt zuletzt in der Tat immer häufiger vor, dass Verlage Warnsignale platzieren: In Bezug auf Sprache, die den Lesenden unangemessen, anstößig, unkorrekt oder unsensibel vorkommen könnte. Stimmen Sie mir zu, dass man damit Leserin oder Leser vor allem auch signalisiert, dass man ihr oder ihm ziemlich wenig Deutungs- und Einordnungsbefähigung attestiert?

Rainer Moritz: Ja, überall fürchtet man, angegriffen zu werden oder einen Shitstorm auszulösen, und hofft, mit solchen Inhaltswarnungen aus dem Schneider zu sein. Wenn man diese Haltung zu Ende denkt, darf es künftig keine Romane ohne seitenlange „Warnungen“ mehr geben. In fast allen ernsthaften Romanen spielt Gewalt eine Rolle, wird gemeuchelt, gemordet, gesoffen, gedealt und gehurt – alles Verhaltensweisen, die wir im richtigen Leben eher unpassend finden. Manche Autoren wie Samuel Beckett gingen so weit, ihre Figuren in Mülltonnen zu setzen – eigentlich ein Skandal für all diejenigen, die es menschenverachtend finden, Menschen in Tonnen zu platzieren. Werden Becketts Stücke künftig mit warnenden Beilagezetteln vertrieben? Werden Theater vor Beginn der Veranstaltung mit signalroter Leuchtschrift ihr Publikum auf diese „Verfehlungen“ hinweisen? Romane oder Dramen erzählen nicht von einer moralischen cleanen Welt, sie zeigen Irrwege und Desaster, und alle, die ins Theater gehen oder Elfriede Jelineks Prosa lesen, wissen, dass es da anders als im Streichelzoo zugeht.

Ich wusste schon immer, dass Céline („Reise ans Ende der Nacht“) privat ein eher unangenehmer Zeitgenosse war und in seinen Romanen nicht jeder Protagonist aufgeklärt daherredete. Und ich las ihn dennoch, gerne sogar, und ohne die in den Romanen vermittelten Weltbilder zu teilen. Was sagt das über mich aus?

Rainer Moritz: Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Es ist ein merkwürdigerweise verbreiteter Irrtum, anzunehmen, dass diejenigen, die beeindruckende Bücher schreiben, auch moralisch integre oder politisch klug daherredende Zeitgenossen sein müssten. In der Literaturgeschichte tummeln sich Autorinnen und Autoren, die im Privatleben Ekelpakete waren, gefährliche Ideologien verbreiteten oder Hitler und Stalin huldigten – und dennoch großartige Texte schrieben. Als Autorin und Autor verfügt man nicht automatisch über ein besseres Urteilsvergnügen als eine Installateurin oder ein „Abendblatt“-Redakteur. Zudem zeigt sich in diesen aktuellen Diskussionen ein erstaunlich ahistorisches Bewusstsein. Menschen, auch Schriftsteller, agieren in einem bestimmten historischen Kontext und erliegen, so aufgeklärt sie sein mögen, den Irrtümern und Fehleinschätzungen ihrer Zeit. So kann man bei Kant Rassistisches oder bei Wilhelm Raabe Antisemitisches finden, natürlich. Ich habe manchmal den Eindruck, dass die Sprach- und Textpolizisten unserer Tage gar nicht auf den Gedanken kommen, in zwanzig, dreißig Jahren könnte man ihre Anschauungen als überholt und verfehlt ansehen.

Was halten Sie von Romanen, in denen allein das Moralisch Gute und Schöne seinen Ausdruck findet?

Rainer Moritz: Ich kenne keine literarisch satisfaktionsfähigen Romane, die so gestrickt sind – es sei denn, man will zurück in eine Hedwig-Courths-Mahler-Welt oder stellt sich das Dasein wie eine „Traumschiff“-Episode vor. Eine „Alles wird gut“-Haltung hat in der Literatur nichts verloren.

Machen Sie als Kritiker der heutigen verlegerischen Gepflogenheiten einen Unterschied zwischen Eingriffen in aktuelle Manuskripte und Buchveröffentlichungen, sei es als Warnhinweis oder tatsächliche Tilgung, und denen in die Backlist, wenn nachträglich diskriminierende oder stereotype Beschreibungen geändert werden?

Rainer Moritz: Ich bin sehr dafür, dass öffentliche Reden oder Sachbücher auf Diskriminierungen geprüft werden. Ich halte bei fiktionalen Texten wie gesagt nichts davon, im Impressum von Büchern vor dem Kommenden zu warnen. Indiskutabel ist es, historische Texte zu glätten oder uns heute als anstößig Vorkommendes zu tilgen. Das wäre eine völlige Verkennung dessen, was Literatur, was Kunst ist. Dass heutige Besserwissertum gegenüber Texten oder auch Gemälden aus früheren Zeiten hat etwas Unerträgliches und zeugt von immenser Selbstgerechtigkeit. Man kann „problematische“ Stellen kritisieren oder kommentieren, ja, aber wir dürfen nicht uns unliebsam erscheinende Kunst im Nachhinein „verbessern“ oder ins Archiv verbannen.

Zuletzt waren Eingriffe in das Werk des Kinder- und Jugendautors Roald Dahl öffentlich geworden – Salman Rushdie sprach von Zensur. Auch Dagobert Duck ist vor Eingriffen nicht gefeit. Ist das Thema „Sensible Sprache“ zumindest im Hinblick auf jüngere Leserinnen und Leser einen Gedanken wert?

Rainer Moritz: Ja, ich sehe durchaus, dass in der Edition von Kinderbüchern Sorgfalt walten muss, dass man hier verstärkt Begleittexte anbieten muss, um deutlich zu machen, warum beispielsweise ein „Negerkuss“ lange Zeit als unbedenkliches Wort galt und warum man das heute anders sieht. Ich halte aber auch hier gar nichts davon, zu verfälschen, was Autorinnen und Autoren geschrieben haben, Irrtümer inklusive. Wenn Figuren wie im Fall Roald Dahl zum Beispiel nicht mehr „fett“ sein dürfen, ist das ein Witz. Doof dürfen sie vermutlich auch nicht mehr sein.

Carlsen Verlag setzt auf Vielfalt und Diversität


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  • Zuletzt wurde bekannt, dass auch Disney in Comics Stereotypen und Begriffe wie „Zwergindianer“ ersetzt und einzelne Geschichten künftig nicht mehr publizieren will. Wie ordnen Sie das ein?

    Rainer Moritz: Kein Verlag kann genötigt werden, Texte oder Comics lieferbar zu halten. Problematisch wird das, wenn man merkt, dass das nur geschieht, weil man Diskussionen aus dem Weg gehen will. Indiskutabel ist in diesem Zusammenhang, was mir neulich die Leiterin eines nicht unbedeutenden Verlags erklärte. Sie würde Klassiker wie Mark Twains Tom-Sawyer- und Huckleberry-Finn-Romane nicht mehr veröffentlichen – wegen ihrer „anstößigen“ Passagen.

    Macht Wokeness die Kunst kaputt?

    Rainer Moritz: Wenn Wokeness übergriffig wird und wenn deren Wortführer glauben, im Besitz der alleinseligmachenden Wahrheit zu sein, kann sie gefährlich sein – für die Kunst liegt darin ihr Todesurteil. Wokeness ist nicht der Maßstab, an dem Kunst gemessen wird. „Seien wir ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich“, heißt es bei Erich Kästner. Jeder Schritt, den wir im Leben tun, ist begleitet davon, dass wir in einer Welt voller Gefahren und Gemeinheiten leben. Darauf muss man sich einstellen, damit müssen wir leben. Eine Gesellschaft kann versuchen, diese Gefährdungen zu minimieren, mit einem Tempolimit etwa. In der Kunst geht das nicht, da gibt es kein Tempolimit, sie schert sich nicht um moralische Makellosigkeit. Sie ist, wenn sie Kunst ist, immer eine Zumutung.

    Ich muss gestehen, dass ich den Gedanken, dass Sprache die Welt formen, sie sogar besser machen kann, im Zweifel sympathisch finde. Was rufen Sie alten Humanisten und neuen Sprachaktivisten zu, die doch eigentlich nur Gutes im Sinn haben?

    Rainer Moritz: Natürlich formt die Sprache unser Weltbild, weshalb es richtig ist, diskriminierendes, verächtlich machendes Vokabular zu benennen und darauf im öffentlichen Diskurs zu verzichten. Dass das „Zigeunerschnitzel“ von den Speisekarten verschwindet, ist richtig und kein kultureller Verlust. Es ist jedoch fatal, zu stark in den Sprachwandel einzugreifen, und es ist fatal, wenn eine kleine Minderheit im Bewusstsein, moralisch und intellektuell Recht zu haben, glaubt, ihre Auffassung anderen oktroyieren zu können. Das gilt übrigens in Teilen auch für das gedankenlose Gendern mit Sternchen oder Doppelpunkten.

    Was glauben Sie, wird es künftig vor allem Romane geben, in denen die Welt so ist, wie sie sein sollte – ohne verbale und physische Gewalt –, oder werden Romane, die die Welt zeigen, wie sie ist, die Oberhand behalten?

    Rainer Moritz: Romane ohne verbale und physische Gewalt – eine eher langweilige Vorstellung, finde ich – wird es vielleicht geben, wenn wir in einer Welt ohne verbale und physische Gewalt leben werden. Das könnte dauern. Und brauchen würden wir solche aseptischen Romane voll Friede, Freude und Eierkuchen ohnehin nicht.