Hamburg. Musik, Theater und Lebensstil – die Baby-Boomer könnten zum zweiten Mal die Gesellschaft umkrempeln. Was sich in Hamburg ändern könnte.

Das wohl bekannteste Musical der Welt, die „West Side Story“ von Leonard Bernstein, erzählt von Demografie. Vordergründig beschreibt es als moderne Version von Romeo und Julia den Krieg verfeindeter Jugendbanden auf den Straßen New Yorks. Die Bande der Sharks stammt aus Puerto Rico wie Hauptdarstellerin Maria. In den Fünfzigerjahren, als das Musical entstand, war Puerto Rico eines der am schnellsten wachsenden Länder der Welt. Frauen hatten im Schnitt mehr als fünf Kinder, Hunderttausende emigrierten in die Vereinigten Staaten.

Heute hat Puerto Rico nur noch eine sogenannte Fertilitätsrate von 1,24 Kindern pro Frau, auf 1000 Bewohner kommen 7,9 Geburten. Zum Vergleich: Die lendenlahme Bundesrepu­blik weist eine Rate von 1,57 beziehungsweise 9,1 Geburten auf.

Das Alter eines Gemeinwesens prägt auch das Kulturleben

Inzwischen ist die Einwohnerzahl auf Puerto Rico deutlich rückläufig, seit der Jahrtausendwende hat die Karibikinsel rund 15 Prozent der Einwohner verloren. Der britische Demografie-Experte Paul Morland brachte es in seinem Buch „Die Macht der Demografie“ auf den Punkt: Heute würde die West Side Story eher auf den Fluren eines Altenheims spielen.

Das kleine Beispiel zeigt – das Alter eines Gemeinwesens prägt die Gesellschaft und damit auch das Kulturleben. Demografie lässt sich schon mit der Fernbedienung erkennen – ob Reinigungstabs für dritte Zähne oder Verdauungsdragees, bei ARD und ZDF sitzt man oft nicht nur in der ersten Reihe, sondern auch in einer Seniorenresidenz. Ob eine demografisch jüngere Gesellschaft auch so oft und hartnäckig Rosamunde Pilcher und volkstümliche Trällershows einschalten würde, scheint mehr als fraglich.

Fernsehprogramm ist mit uns alt geworden

Das Programm ist mit uns alt geworden: 1960 lag das Medianalter, das die Bevölkerung in zwei Hälften teilt, in Deutschland bei rund 34 Jahren; 1990 bei rund 38 Jahren und inzwischen bei 46 Jahren. Selbst die TV-Stars von Thomas Gottschalk bis Günther Jauch begleiten uns seit Jahrzehnten. Auch die Pop-Musik beherrschen inzwischen vorzugsweise viele alte weiße Männer, die schon vor 30, 40 oder 50 Jahren auf den Bühnen der Stadthallen oder in den Stadien musizierten. Wir werden zusammen alt.

Allerdings ist Alter relativ – noch vor einem halben Jahrhundert galten 75-Jährige als Greise, heute nennt man sie lieber die „Silver Generation“. Die Menschen sind nicht nur gesünder, sie empfinden sich auch als jünger. Laut einer Generali-Studie fühlen sich die Menschen mehr als neun Jahre jünger, als sie tatsächlich sind. Dieses „gefühlte Alter“ hat viel mit dem Lebensstil der Generation zu tun: Die Menschen sind aktiver, treiben mehr Sport, leben gesünder und engagieren sich.

Die „Neuen Alten“ genießen kulturelle Aktivitäten bis ins hohe Alter

Und noch etwas zeigte die Studie: Die „Neuen Alten“ genießen kulturelle und soziale Aktivitäten bis ins hohe Alter und leben eher ein großstädtisches Leben als die älteren Menschen der Vergangenheit. „Die Alten ändern sich – sie sind digitaler, mobiler, gesünder. Sie wollen nicht alt sein“, sagt Eva Nemela, die Leiterin des Bereichs Alter und Demografie der Körber-Stiftung.

Das ist auch in den Theatern, Kinosälen und Konzerthäusern unübersehbar. „Das Durchschnittsalter bei sämtlichen Kulturattraktion hat sich erhöht“, sagt Ulrich Reinhardt von der Stiftung für Zukunftsfragen in Hamburg. Erst kürzlich hat er die Folgen der Demografie analysiert: „Es gibt immer mehr Ältere, die ins Theater gehen, ins Kino, in die Clubs, die Kultureinrichtungen im Stadtteil besuchen. Auffällig sind die Altersunterschiede bei hochkulturellen Angeboten, die im Vergleich von zunehmend mehr Älteren besucht werden.“

Häuser müssen sich in Zukunft auf neue Zielgruppe einstellen

Auf die neue Zielgruppe und ihre Bedürfnisse müssen sich die Häuser in Zukunft verstärkt einstellen, sagt Reinhardt: „Eine Grundvoraussetzung für Kinos wird in Zukunft sein, dass die Möglichkeit besteht, zwischendurch auf Toilette zu gehen.“

Umfragen des Instituts hätten ergeben, dass der Hauptgrund, warum ältere Menschen sich nicht in die Kinosäle wagen, die Angst sei, zwischendurch auf Toilette zu müssen. „Nicht jeder will sich während des Films oder der Vorstellung durch die Reihen drängeln und über Jacken steigen.“ Pausen könnten bald vielleicht zum Kinoalltag gehören – auch weil der Verkauf von Popcorn und Getränken eine immer wichtigere Einnahmequelle geworden ist.

„Eine zunehmend ältere Bevölkerung hat Auswirkungen auf den Inhalt, aber auch die Rahmenbedingungen“, sagt Zukunftsforscher Reinhardt. Entsprechend dürften die kulturellen Angebote noch deutlich stärker als bisher die Bedürfnisse der älteren Generationen berücksichtigen.

Trend der aktiven Alten stützt die Kulturnachfrage in Hamburg

Der Trend der aktiven Alten stützt derzeit die Kulturnachfrage in Hamburg: Gerade die älteren Semester verfügen über Zeit und Geld sowie ein hohes Interesse an Musik, Ausstellungen, Literatur oder Film – bleiben sie länger fit, ist das für Elbphilharmonie & Co. eine gute Nachricht. Und doch werden sich alle Institutionen mittelfristig auf den Wandel einstellen müssen. Wer mit der Bahn ins Theater fährt, erlebt heute schon zwei Welten: Eine junge, sehr internationale Mischung im Öffentlichen Nahverkehr, eine ältere und sehr deutsche Besucherschar in den Kultureinrichtungen.

Die Einrichtungen geraten damit zunehmend in ein Dilemma – das treue Pu­blikum zu umsorgen könnte auf Dauer den Nachwuchs kosten. Mit Nathan, dem Weisen oder Wilhelm Tell, mit Beethoven und Brahms tun sich Jüngere oft schwer. Sich hingegen zu sehr von den Bestsellern zu entfernen gefährdet schnell die Einnahmen.

Kultursenator Carsten Brosda treibt das Thema seit Langem um: „Alle paar Jahre müssen wir uns überlegen, wie sich das Publikum verändert“, sagt der Sozialdemokrat dem Abendblatt. „Die zentrale Frage lautet, wie wir die Vielfalt, die wir in der Stadtgesellschaft haben, in die eher homogenen Kulturinstitutionen hineinholen. Es geht auf Dauer schief, wenn wir kein Programm für eine vielfältige, bunte Stadtgesellschaft anbieten.“

Brosda wünscht sich für Hamburg ein diverses Orchester

Eine zentrale Frage laute, wie die Institutionen genauso vielfältig werden, wie es die Stadt bereits ist. „Da sind andere gesellschaftliche Bereiche weiter: Ein neuer Jahrgang bei der Polizei ist bunter als viele Teams in den Kultureinrichtungen“, sagt Brosda selbstkritisch.

„Ein neuer Jahrgang bei der Polizei ist bunter als viele Teams in den Kultureinrichtungen“, sagt Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda.
„Ein neuer Jahrgang bei der Polizei ist bunter als viele Teams in den Kultureinrichtungen“, sagt Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda. © picture alliance/dpa | Christian Charisius

Er wünsche sich ein Orchester, „das so divers ist wie unsere Stadtteile und in der Elbphilharmonie Beethovens Neunte spielt. Irgendwann sollte es keine Ausnahme mehr sein, dass die plattdeutsche urhamburgische Bühne Ohnsorg mit Murat Yeginer einen Oberspielleiter mit türkischen Wurzeln hat. Von solchen Beispielen brauchen wir mehr.“

Christoph Lieben-Seutter: „Wir werden nicht nur älter, wir werden auch bunter"

Veränderungsbedarf sieht auch Christoph Lieben-Seutter, der Generalintendant der Laeiszhalle und Elbphilharmonie: „Wir werden nicht nur älter, wir werden auch bunter. Da muss auch unser Angebot zielgruppenspezifischer werden. Da werden wir neben der Beethoven-Sinfonie auch türkische Musik anbieten“, sagt Lieben-Seutter. Sein Geburtsjahrgang 1964 ist statistisch mit 1,36 Millionen der größte, der jemals in Deutschland zur Welt kam. Danach sanken die Zahlen kontinuierlich auf nur noch 663.000 Neugeborene im Jahr 2011.

Die Konzerthäuser kämpfen also mit zwei Problemen: Die Zahl der potenziellen Gäste sinkt. Und die Nachfrage nach klassischer Musik ist in jüngeren Zielgruppen sicherlich weniger ausgeprägt als früher. Umfragen zufolge ist der Anteil der Haushalte, in denen ein Instrument gespielt wird, seit Jahren rückläufig: 2008 waren es noch 25,6 Prozent, zuletzt machten nur noch 18,8 Prozent der Deutschen aktiv Musik. „Es funktioniert nicht mehr so einfach, wie wir es noch vor 20 Jahren gemacht haben“, sagt Lieben-Seutter.

Hamburgs Konzerthäuser müssen sich etwas einfallen lassen

Konzerthäuser müssten sich etwas einfallen lassen: Angebote für Kinder von 0 bis 15 Jahren seien so gut wie immer ausverkauft, dabei entscheiden ja noch die Eltern. Und doch sei dies ein wichtiger Schritt der kulturellen Sozialisation: „Die Kinder lernen schon mal, wie ein Konzert ist und kommen vielleicht wieder, wenn sie 30 oder 40 Jahre alt sind und selbst eine Familie gegründet haben.“

Dass Konzerthäuser inzwischen als Silbersee gelten, denen der Nachwuchs ausgeht, sieht Lieben-Seutter aber entspannt: „Selbst ich, der klassische Musik von Kindheit an geliebt hat, habe meine Jugend vor allem in der Disco und bei Popkonzerten verbracht“, sagt der gebürtige Wiener. „Die Sorge, dass in den Konzerthäusern der Nachwuchs ausbleibt und nur noch ein Silbersee sitzt, kenne ich seit 50 Jahren.“

Junge Leute wollten genauso gemeinsam etwas erleben wie Ältere. „Da ist zuerst einmal der Club das Ziel, gemeinsame Feiern, Popkonzerte. Wir müssen sie nur erreichen: Mit dem richtigen Instagram-Post, der sich viral verbreitet, können sich Konzerte in einer Geschwindigkeit verkaufen, die früher undenkbar war.“

Brosda: Theater wird nicht Stellenwert einbüßen

Auch Brosda erwartet, dass das Theater nicht an Stellenwert einbüßen wird und die jungen Leute nachwachsen: „Die erste Frage war früher auch: Mit wem treffe ich mich? Und die zweite Frage lautete: Was machen wir? Irgendwann kam eine Phase, in der das Theater cool wurde, da wollte man mit den Mädchen ins Theater gehen, um sie zu beeindrucken.“

Ein erster Schritt, um Hemmschwellen abzusenken, könnte die Öffnung der Häuser für andere Veranstaltungen sein. Das St. Pauli Theater beispielsweise öffnet nachts für Late Night Poetry Slams: „Wir vermieten unseren Saal inzwischen oft spätabends, weil dann auf dem Kiez etwas los ist“, erzählt Ulrich Waller, der künstlerische Leiter des Traditionstheaters auf der Reeperbahn. „Dann läuft bei uns ein Programm, bei dem ich nichts verstehe, aber der Laden ist voll und die Leute lachen sich tot. Man muss nicht alles selbst erfinden, manchmal genügt es, das Haus einfach aufzumachen.“

Was aber wird aus der Kultur, wenn die Jugendlichen, die in den vergangenen Jahrzehnten stets der Motor der Veränderung waren, in die Minderheit geraten? In den Sechzigerjahren waren noch Kinder bis zehn Jahre die stärkste Altersgruppe – die Generation wuchs als Babyboomerbauch in der Alterspyramide immer weiter nach oben. Und sie werden mit ihrer schieren Masse auch das Leben und den Geschmack der kommenden Jahre und Jahrzehnte beherrschen – einfach weil sie es können und sie es gewohnt sind.

Abgrenzung der Jungen von den Alten wird immer komplizierter

Längst benehmen sich viele Alte wie ihre eigenen Kinder – sie schauen dieselben Serien, tragen dieselbe Mode, verwirklichen sich im selben Trendsport und nähern sich im gesamten Lebensstil der Jugend an. Der Philosoph Andreas Reckwitz schreibt dazu: „Das Lebensalter verlängert sich und lässt die Gesellschaft insgesamt altern.

Zugleich findet jedoch auf der kulturellen Ebene ein Prozess der Juvenilisierung statt, das heißt, Jugendlichkeit als kulturelles Muster wird für alle Altersstufen attraktiv und dominant.“ Im Klartext: Die Abgrenzung der Jungen von den Alten wird damit immer komplizierter. Das könnte sogar das Ende der Jugendkultur einläuten – zumindest in alten Ländern. Deutschland ist nach Japan übrigens das zweitälteste Land der Welt.

Baby-Boomer könnten zum zweiten Mal die Gesellschaft umkrempeln

Der Autor Stefan Schulz schreibt in seinem Buch „Die Alten-Republik“, die Baby-Boomer könnten „bald die zweite große kulturelle Revolution lostreten. Auf ihren Aufbruch von damals folgt heute ihr gemeinsames Zur-Ruhe-Setzen. Hand in Hand mit den neuen Märkten, die sie hervorbringen, und der Kaufkraft, über die sie kollektiv verfügen, krempeln sie ein weiteres Mal die Gesellschaft um. Niemand wird sie aufhalten können.“

Die Jugend spielt in Zukunft anderswo. Damit werden sich auch die Märkte ändern: In Zukunft dürften weit mehr Produktionen aus den Ländern des Südens kommen. Schon heute ist der Aufstieg der Filmnation Indien und von Bollywood ohne die Demografie nicht erklärbar: Indien mit mehr als 1,4 Milliarden Einwohnern und einer Fertilitätsrate von 2,1 Kindern pro Frau wird einer der großen Kultur­exporteure der Welt. Und wahrscheinlicher als eine West Side Story aus dem Altersheim wird ein weltweit erfolgreiches Musical, das in Bangalore oder Mumbai spielt.