Hamburg. Dorothee Röhrig hat ein Buch über ihre Mutter geschrieben. Es handelt auch von der Herkunft aus dem NS-Widerstand. Die war prägend.
Der Ausgangspunkt ist ein Foto, Jahrzehnte ist es alt. Dorothee Röhrig sieht sich als Zweijährige mit ihrer Mutter, damals 28. Ein Bild, das Dorothee Röhrig darauf untersucht, was es über die Beziehung zu ihrer Mutter aussagen könnte. Auf Nähe und Distanz. Der Griff der Mutter, sieht es nicht so aus, als würde das eigenwillige Kind sich im nächsten Augenblick losreißen?
Die Symbolik im Hinblick auf die spätere Mutter-Tochter-Beziehung entgeht ihr nicht. Was frühkindlich angelegt gewesen sein könnte, ist eine Deutungsspur in Dorothee Röhrigs jetzt erscheinendem, persönlichem Buch. Es heißt „Du wirst noch an mich denken. Liebeserklärung an eine schwierige Mutter“.
Und ist weitaus mehr als ein auf dieses Verhältnis zielendes Unternehmen, nämlich eine Tiefenbohrung in der Familiengeschichte Röhrigs. Ihre Mutter war Barbara von Dohnanyi, die 1926 als Tochter Hans und Christine von Dohnanyis geboren wurde. Christine von Dohnanyi war eine geborene Bonhoeffer. Was bedeutet, dass Röhrig, die 1952 in Tübingen zur Welt gekommene Journalistin und Buchautorin („Die fünf magischen Momente des Lebens: Wie wir die Chancen ergreifen, die uns das Schicksal schenkt“), aus einer prominenten Familie stammt. Einer Familie, die wie wenige andere in dunklen Zeiten für das gute Deutschland stand.
Dorothee Röhrig: Psychologische Herangensweise an die Familiengeschichte
Hans von Dohnanyi gehörte wie seine Schulfreunde und Schwager Dietrich und Klaus Bonhoeffer dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus an und wurde wie diese im April 1945, kurz vor Kriegsende, hingerichtet. Von diesen Prägungen erzählt Dorothee Röhrig in ihrem Buch; es waren vor allem die Prägungen ihrer Mutter, die als 16-Jährige mitansehen musste, wie ihre Eltern verhaftet wurden, und mit 18 ihren Vater verlor.
In einer liebevollen, von einer psychologischen Herangehensweise geleiteten Annäherung gelingt es Röhrig dabei, das Wesen ihrer Mutter in den Blick zu nehmen – und gleichzeitig nicht nur ihre eigene Lebensgeschichte, sondern auch von weiblichen Identifikationsmodellen und Mutterrollen zu erzählen. Röhrig, die in dritter Ehe mit dem Journalisten Hubertus Meyer-Burckhardt verheiratet ist, zeichnet ihre Mutter als vom jugendlichen Trauma lebenslang Gezeichnete, die aus dem Verlust eine Stärke für den Preis einer bestimmten Form von Unnahbarkeit machte.
Die Dohnanyis und die Bonhoeffers: Widerstand gegen Hitler
Wenn es um die Vergangenheit als Tochter von Widerstandskämpfern und Hitler-Opfern geht, hatte Barbara Bayer von Dohnanyi, die spät als Witwe wieder ihren Geburtsnamen trug, immer den Anspruch, die Deutungsmacht zu behalten. Wie enervierend das für ihre Tochter oft war, lässt Röhrig mehr als nur durchblicken. Den Wunden der Mutter – Röhrig sichtete viele Briefe – begegnet sie sensibel und empathisch. Die Fehlgeburten Barbara von Dohnanyis, später der Verlust der Mutter, die mit Anfang 60 starb, ohne je wieder, als Witwe eines Widerstandskämpfers quasi für immer obdachlos geworden, ein festes Zuhause zu haben, noch später der Verlust des Ehemanns: Dorothee Röhrig besucht in ihrem einfühlsamen Porträt das Leben einer Frau, in dem an Schicksalsschlägen kein Mangel herrschte.
Aber standesbewusst war sie, die in ihren jüngeren Jahren zeitweise nicht nur ihre beiden Kinder, sondern auch Johannes von Dohnanyi großzog. Der Sohn Klaus von Dohnanyis, des späteren Hamburger Bürgermeisters, lebte nach dem Tod seiner Mutter mit im Haushalt, Dorothee Röhrig schildert ihn als eine Art zweiten Bruder. Dieses Buch ist unbedingt eine Familienangelegenheit, und wenn Röhrig die Rolle ihrer Mutter im Beziehungsgeflecht freilegt, ist der Wille spürbar, ihr einen gleichberechtigten Platz neben den prominenten Brüder Klaus und Christoph von Dohnanyi zuzugestehen.
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Bruderstolz auf Klaus und Christoph von Dohnanyi
Sie war das älteste der drei Kinder Hans und Christine von Dohnanyis, den Brüdern ein Halt in der Haltlosigkeit der Nazi-Zeit. Später blieb sie, so beschreibt Röhrig es, den Geschwistern eng verbunden, bewunderte sie, zeigte Bruderstolz, wenn die Sprache auf den Politiker Klaus und den Musiker Christoph kam. Dorothee Röhrig gewährt Einblicke in das Innenleben eines noblen deutschen Clans, in dem sich Geist und Schicksal ballen. Und sieht dabei manches in kritischem Licht. Schildert ihre „Abneigung gegen die Überheblichkeit in der Familie“ und erinnert sich an die Angst der Mutter, dass man sich im elitären Kreis der Familie danebenbenahm. Aussagen über die DNA der Familie: „Immer geht es um Anerkennung. Ein Schlüsselwort auch innerhalb unserer engeren Familie, wo sie nur wenigen zuteil wird. Eher neigen wir untereinander zu ironischen, herablassenden Bemerkungen und spitzer Kritik. Etwa, wenn jemand dem geistigen Anspruch nicht genügt.“
Dorothee Röhrigs Deutungsmanöver, in dem Bemühen der Widerstands-Dohnanyis – die einzigen Helden in den Diktaturjahren galten auch danach oft als Vaterlandsverräter – um gesellschaftliche Anerkennung den Ursprung von „Härte“ und dem „ewigen Ringen um Bedeutung“ zu sehen, erscheint schlüssig.
Die Vererbung von traumatischen Erfahrungen
Nazi-Täter wurden nach 1945 rehabilitiert und konnten unbehelligt leben, ein weiteres Schandmal der deutschen Geschichte. Familien wie die Dohnanyis mussten lange um Wertschätzung ringen. Den Mangel sieht Röhrig als „Familientreibstoff, der sich in besonderer Leistungsbereitschaft sowie in gelegentlichem Hochmut bis heute zeigt. In dem Gefühl, anders zu sein als die anderen. Besser. Begabter.“
An Stellen wie diesen baut Röhrig einerseits auf das Interesse am VIP-Status der eigenen Sippe. Und bleibt gleichzeitig intim. Was prägt einen persönlich mehr als die Vererbung von Erfahrungen?