Hamburg. In der konzertanten Aufführung der Händel-Oper glänzen die Solistinnen. Eine wird möglicherweise durch einen unglücklichen Sturz gepusht.

Am Ende vom zweiten Akt wird Alcina kalt erwischt. Sie, die Zauberin, die bis dahin alles – und vor allem die Männer – im Griff zu haben scheint, merkt plötzlich, dass sich der geliebte Ruggiero von ihrem Bann befreit hat. Er will sie verlassen. Das fährt ihr in die Glieder.

Händel hat diese Schockstarre mit stockenden Staccatofiguren des Orchesters ausgemalt. „Ah! Grausamer Ruggiero. Du hast mich nie geliebt!“ klagt Magdalena Kožená als Alcina. Ihre Stimme scheint vor Schmerz zu beben. Die Mezzosopranistin ringt geräuschvoll nach Luft, sie leidet spürbar, schlägt die Hände vors Gesicht. Großes Gefühlskino. Ein packender, ein ergreifender Moment im Großen Saal der Elbphilharmonie.

Allerspätestens jetzt ist vergessen, dass da eigentlich etwas fehlt. Wie bei jeder konzertanten Aufführung. Gerade eine Zauber-Oper wie „Alcina“ zehrt ja auch vom visuellen Spektakel: Die Premiere im Londoner Covent Garden hat ihr Publikum vor bald dreihundert Jahren mit beweglichen Felsen und einem feuerspuckenden Drachenwagen gefesselt.

Alcina in der Elbphilharmonie: Verzicht auf Inszenierung wird wettgemacht

Aber es gelingt dem Abend, den Verzicht auf eine Inszenierung wettzumachen. Schon wie der Dirigent Marc Minkowski nach dem Auftrittsapplaus förmlich aufs Pult springt und sofort loslegt, zeigt: Er und sein Barockorchester, Les Musiciens du Louvre, sind bereit, dieses Extra an Energie zu investieren, das es braucht, um drei Stunden Oper rein musikalisch zu tragen.

Ungewohnt scharfkantig und ein bisschen rau beginnt Minkowski die Ouvertüre. Er rückt den Ausdruck der Musik ins Zentrum. Und da bleibt er auch für den Rest des Abends. Georg Friedrich Händel nutzt die Geschichte um die mythische Magierin, die erst durch die eigene Verletzlichkeit zum Menschen wird, um die Kraft der Liebe zu beleuchten. Mit all ihren Folgeaffekten.

Seine Oper Alcina, gespickt mit den barocküblichen Verwirrspielen, erzählt von Eifersucht und Glücksgefühl, von Trauer, Reue und Rache. Der damals 50-jährige Komponist findet eine ideale Balance aus Bravournummern und lyrischen Momenten, er schreibt dankbare Arien für die sieben Solistinnen und Solisten.

Sopranistin Erin Morley ist eine hinreißende Morgana

In der Elbphilharmonie überzeugen sie alle, auch die drei Herren in den etwas kleineren Partien. Aber die Stars des Abends sind weiblich. Die Sopranistin Erin Morley ist eine hinreißende Morgana. Weil sie Ton und Charakter der jungen, ihrer Gefühle noch nicht ganz sicheren Frau genau trifft. Mit ihrem beweglichen Timbre, aber auch in ihrer Körpersprache.

Nachdem sie, frisch verliebt und ein bisschen kokett, über ihre Gefühle für Ricciardo geschwärmt hat, kuschelt Morley kurz die Noten an sich. Eine von diesen kleinen Gesten, die ab und an doch ein Hauch von szenischer Darstellung andeuten.

Elizabeth DeShong – was für eine Sängerin!

Als Ruggiero berührt die Mezzosopranistin Anna Bonitatibus vor allem in den intimen Passagen. Wie in „Verdi prati“, einer der schönsten Händel-Arien überhaupt, in der das Orchester allerfeinst begleitet. Nicht nur hier erkunden Minkowski und sein Spezialensemble den Farbreichtum von Händels Partitur, vom süßen Säuseln der Blockflöten bis zur kampfeslustigen Attacke der Hörner.

Einen ganz anderen Typ Mezzo verkörpert Elizabeth DeShong. Ihr dunkles Timbre mit der satten Tiefe ist eine vokale Wucht. Und sie hat Power. In der ersten Arie vielleicht gepusht von einem Adrenalineinschuss, weil sie kurz zuvor eine Stufe auf der Bühne übersehen hat und unglücklich gefallen ist.

Jedenfalls fegt DeShong danach mit mitreißendem Furor durch den Eifersuchtsausbruch der Bradamante. Und entscheidet auch den Koloraturen-Battle des Abends knapp für sich. Eine Riesenstimme, brillant geführt: Was für eine Sängerin!

Hauptfigur bleibt trotzdem die Alcina von Magdalena Kožená. Sie durchlebt die emotionalen Extremzustände der entzauberten Zauberin eindringlich und geht dabei noch mutiger als früher aus sich heraus. An einem Abend, der die Reihe konzertanter Opernaufführungen in der Elbphilharmonie auf Topnveau hält.