Hamburg. „Liebes Arschloch“, tatsächlich? Virginie Despentes versucht in ihrem neuen Roman, MeToo zu befrieden. Gefällt nicht jedem.

„Cher connard“ war zweifellos das Thema in Paris, in der französischsprachigen Literatur im vergangenen Herbst. Virginie Despentes ist seit 30 Jahren eine feministische Ikone, seit „Baise-moi“, seit dem Buch und dem gleichnamigen Film dazu, Despentes führte selbst Regie. Frauen, die von Männern sexuell traktiert wurden, Opfer männlicher Gewalt, sind auf dem Rachetrip und töten reihenweise die Aggressoren: Das war der skandalisierte grelle Plot, mit dem Despentes zu einer Marke wurde. Und nun ist „Baise-moi (Fick mich!)“ die Folie, ohne die man den neuen Roman, der wieder das sprachlich Explizite nicht scheut, nicht lesen kann.

Liebes Arschloch“ also, eine Botschaft adressiert an einen Mann, unweigerlich. Frauen werden rein grammatikalisch eher selten als „Arschloch“ tituliert. In diesem Fall ist es die Schauspielerin Rebecca, sie ist über 50, die auf Social Media mit jener Anrede Oscar anschreibt, 43, ein halbwegs erfolgreicher Autor. Oscar ist ihr auf Facebook auf die Facebook-Art blöd gekommen und hat sich abfällig über sie, das angeblich derangierte Äußere, geäußert – der Mann wollte Rebeccas Aufmerksamkeit.

Virginie Despentes: Ihr neues Werk ist ein E-Mail-Roman

Man kennt sich, ihr ist das zuerst nicht bewusst, seit der gemeinsamen Jugend in der tristen Provinz. „Liebes Arschloch“ ist ein glorreich überkonstruierter Roman, wenn man sich das Beziehungsgeflecht ansieht; überhaupt verraten Anlage und Thema dieses Romans das immense Selbstvertrauen der Autorin Despentes, die 1969 in Nancy geboren wurde und seit ihrer „Vernon Subutex“-Trilogie über einen Absteiger eine international gefeierte Bestsellerin ist. Despentes traut sich beispielsweise, eine Parallele zu Juli Zeh und Simon Urban („Zwischen Welten“), einen reinen E-Mail-Roman vorzulegen, eine Disziplin, in der es literarisch doch immer recht statisch zugeht.

Da muss dann in diesen Briefen und Bekenntnissen wenigstens der Diskurs fetzen. Despentes nimmt sich zielsicher eines der gefährlichsten gesellschaftlichen Minenfelder vor. Es liegt im Zwischengeschlechtlichen, wo Machtverhältnisse für männliche Dominanz, Übergriffigkeit, Gewalt sorgen und weibliche Opferrollen. Despentes’ Romanfigur Oscar stieg einst, es war die Zeit erster beruflicher Erfolge, der jüngeren Pressereferentin nach: Nicht auf die handfeste, sondern die jämmerliche Weise, einer Art amourösen Loser-Psychoterror. Zoé Katana, das Opfer, dem niemand gegen den liebestollen Trottel zu Hilfe kam, quittierte emotional ramponiert den Dienst.

Radikalfeministin Zoé: „Milizionäre mickriger Männlichkeit“

In der Erzählgegenwart der zwischen der Schauspielerin Rebecca und Oscar hin und her gehenden Mails ist letzterer nun selbst Opfer – die Radikalfeministin Zoé stellte ihn nachträglich a den Pranger. Weibliche Selbstermächtigung in einer patriarchalischen Gesellschaft hat mit MeToo einen notwendigen Impuls bekommen. Das zweifelt auch Rebecca nicht an, die in den offenherzigen, direkten und schneidigen Mails mit ihrem neuen Freund Oscar unermüdlich über die Themen Älterwerden („Willst du wirklich wissen, was es heißt, gecancelt zu werden? Dann sprich mit einer Schauspielerin in meinem Alter“) und Drogensucht spricht und in der Belästigungssache klar Partei ist: Sie sucht den Kontakt zu Zoé Katana. Gleiches gilt für Oscars Schwester, die ebenfalls Loyalität in der Sisterhood abliefert. Da sind die Fronten dann noch mal klar: Der nächste Shitstorm ist schon im Gange, als die männlichen Hater im Netz die einstweilen noch wehrhafte Zoé („Ein Haufen Scheiße. Milizionäre mickriger Männlichkeit. Mickriganten“) zum zweiten Mal zum Opfer machen.

Zoé kommt auch zu Wort, aber viel weniger als Oscar. Und der ist, weil er selbstkritisch ist, weil er, der bald trockene Alki, eine Entwicklung durchmacht und in seinen lächerlichen Übertreibungen („Wenn du heute meinen Namen bei Google eingibst, könntest du meinen, ich würde Kindergartenkinder während der Pause vergewaltigen“) beinah komisch ist, meistens nicht annähernd unsympathisch. Despentes macht ihn zur harmloseren Variante des Sexualtäters – es kam nie zum erzwungenen Vollzug. Oscars männliches Gift wirkte anders.

„Liebes Arschloch“: Punchlines durchziehen den Text

Kein Wunder, dass Virginie Despentes, dem Punk der französischen Kulturszene, von feministischen Kreisen nun Kritik entgegenschlug. Sie unternimmt in „Liebes Arschloch“ den Versuch, den Geschlechterkampf zu befrieden und Täter und Opfer auszusöhnen. Sie nimmt auch die Perspektive der Täter ein, auf die Gefahr hin, dass unter Umständen nicht nur Männer mehr für Oscar übrig haben als für Zoé, deren Neofeminismus man im Zweifel schulterzuckernder zur Kenntnis nimmt als Oscars halbwegs selbstquälerische Bewusstwerdung eigener Schändlichkeit und Herablassung: „Wir dachten, sie wären zufrieden. Ich bin in einer Welt aufgewachsen, in der man immer glaubte, ihnen könne nichts Besseres passieren, als dass sich ein Mann für sie interessiert.“

„Liebes Arschloch“ ist ein Buch mit Längen, aber auch der willkommene neue Titel im Gesamtwerk einer Frau, das man lieben darf: für Humor, Geradlinigkeit und unendlich viele Punchlines, die sich auch durch diesen Text ziehen. Die Romanfigur Rebecca etwa ist rotzig in ihren Zeitgeistbetrachtungen („Lieber verrecken als Yoga machen, definitiv“), aber komplex in ihrem Urteil. Nach dem Motto: Männer sind scheiße, Frauen manchmal auch.