Hamburg. Juli Zeh und der Hamburger Autor Simon Urban fragen in „Zwischen Welten“ nach den Grenzen der Gesprächskultur.
Kann ein Küchentisch zum Sehnsuchtsort werden, zum Inbegriff des vertrauensvollen Austausches, der menschlichen Begegnung? In unseren Zeiten der sozialmedialen Dauererregung wohl schon und in diesem Roman auf jeden Fall. Seine Hauptfiguren Theresa und Stefan pflegen melancholische Erinnerungen an dieses Möbelstück, das einmal in einer Münsteraner WG-Küche stand und an dem die beiden Studierenden der Literaturwissenschaft nächtelang Wein tranken und über alles Mögliche diskutieren konnten, den hochverehrten Martin Walser, Familienplanung, Politik und den ganzen Rest. Sie waren kein Paar, aber eng befreundet und wichtig füreinander. Dann aber lag eines Tages ein Zettel mit Theresas Handschrift auf dem Küchentisch: „Vater tot, muss nach Hause.“ Wochen später traf noch ein wortkarger Brief von ihr ein, dass sie die väterliche Milchwirtschaft in Brandenburg übernommen habe, dann kein Wort mehr. Und 20 Jahre vergingen.
Das ist die Vorgeschichte dieses Romans, den Erfolgsautorin Juli Zeh zusammen mit dem Hamburger Schriftsteller Simon Urban verfasst hat und der nicht nur dem Titel nach, sondern auch thematisch an Zehs Bestseller „Unterleuten“ und „Über Menschen“ anschließt. Wieder geht es hier um Mentalitätsunterschiede zwischen Stadt und Land, erneut geht es vor allem auch darum, möglichst viele Themen der aktuellen Nachrichten- und Debattendiskurse in den Text einzuspeisen. Der Krieg in der Ukraine, die Problematik kultureller Aneignung, die Klimaproteste, die Genderfrage, die Mechanik der sozialen Medien und die sich aus ihr ergebende Gesprächskultur, die Statur des Journalismus unter dem Diktat von Onlinequoten und unter Einfluss aktivistischer Bewegungen, dazu die Agrarpolitik und ihre Folgen: All das wird hier verhandelt, gewendet und mit Beispielen illustriert, wenn auch nicht in der Küche, sondern per E-Mail und WhatsApp.
Denn Zeh und Urban beleben hier das altehrwürdige Genre des Briefromans neu und erzählen eine unausgelebte Liebesgeschichte, die auch jetzt keine große Chancen im analogen Leben hat und sich deshalb im virtuellen Raum austobt. Da ist zum einen Stefan Jordan, der im Journalismus eine steile Karriere hingelegt hat und inzwischen stellvertretender Chefredakteur von Deutschlands führender Wochenzeitung „Der Bote“ ist. Als mittelalter, weißer Mann in einer Führungsposition sieht er sich nun von der jungen Generation unter Druck gesetzt, reagiert aber auf deren Anliegen verständnisvoll: In seinen E-Mails und Textnachrichten an Theresa nutzt er das Gendersternchen, plädiert für Diversität und erweist sich als Anwalt der Klimabewegung, auch wenn ihn deren selbstbewusst-fordernder Ton dann doch manchmal provoziert.
Kommunikationsproblem steht im Roman-Zentrum
Was sind solche Probleme für Milchbäuerin Theresa, mit der sich Stefan nun wieder schreibt, nachdem sich beide zufällig in Hamburg über den Weg gelaufen sind? „Finde ich alles ziemlich pipifax“, schreibt sie einmal, und kurz darauf: „Irgendwie spielt ihr in eurer kleinen Blase doch ein Spiel, das nur euch selbst betrifft.“ Sie kann dem mit allen möglichen Feinjustierungen kritischer Achtsamkeit hadernden Freund das tätige Leben entgegenhalten, das sich zwischen dem Kuhstall, Maisfeldern und Biogasanlagen, zwischen Geldsorgen und bürokratischer Überreglementierung abspielt. Aus ihrer Perspektive ist ein Gendersternchen nur ein den Lesefluss hemmendes Sonderzeichen und im Vergleich zum seit Tagen ausbleibenden Regen gar nicht weiter der Rede wert: ein Zeitvertreib für Menschen, die sonst keine Probleme haben.
Können sich zwei, die von derart verschiedenen Standpunkten auf die Realität blicken, überhaupt verständigen? Das gelingt nur unter ständigem Streit und erheblicher Reibung. Die dabei entstehende Wärme füttert die Liebesgeschichte, um die es hier auch geht. Zudem müssen beide ähnliche Erfahrungen durchstehen: Stefan muss mitansehen, wie sein direkter Vorgesetzter nach einer unbedachten, lustig gemeinten Äußerung gegenüber einer schwarzen Mitarbeiterin auf Twitter und Facebook durch den Fleischwolf gedreht wird, um sich wenig später selbst am Pranger wiederzufinden. Theresa dagegen versucht die drohende Pleite ihres Hofs abzuwenden, indem sie sich einer Aktivistengruppe anschließt – die Resonanz in den örtlichen Medien fällt verheerend aus und verschiebt ihre ohnehin schon riesigen Probleme ins Ausweglose.
Worüber und wie reden wir miteinander? Das mit Blick auf die Gegenwart leicht feststellbare Kommunikationsproblem steht im Zentrum dieses Romans, der für viele der täglich in Leitartikeln und Postings verhandelten Fragen des öffentlichen Lebens eine Fülle von Perspektiven anbietet, die Wahl aber dem Publikum überlässt. Hier sprechen zwei kluge Figuren miteinander und ringen um einen gemeinsamen Grund. Das liest sich auch deshalb so schnell und kurzweilig, weil es sehr professionell und präzise der heutigen Medienrealität abgelauscht ist und mit seinen vielen Anspielungen auch zum Mitraten einlädt.
Buch erscheint wie vertrautes Gespräch am Küchentisch
Andererseits hat dieser Text kein Geheimnis, das über ihn hinausweisen und ihm erst literarischen Reiz verleihen würde. Stilistisch reiht er sich in das vom Literaturwissenschaftler Moritz Baßler erst kürzlich beschriebene Erzählmodell des populären Realismus ein, wonach die sprachliche Ebene nur einen möglichst widerstandsfreien Zugriff auf den Plot gewährleistet, sonst aber nicht weiter stören soll und sich dabei gern auch abgegriffener Formulierungen bedient.
Weil die verhandelten Themen hier so gegenwärtig und interessant sind, weil mit den Phänomenen des Shitstorms und des moralischen Absolutismus sehr dringende Themen zur Debatte stehen und auch klug reflektiert werden, kann dies lange unbemerkt bleiben – aber nicht über die gesamten 456 Seiten hinweg. So bleibt dieses Buch (es erscheint am Mittwoch) nicht als aufregende Leseerfahrung, sondern eher wie ein langes, vertrautes Gespräch am Küchentisch im Gedächtnis. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.