Hamburg. In der Klassik sind Partituren oft anspruchsvoll. Wie soll das später klingen? Über ein Hamburger Streicherensemble und seine Arbeit.

Die Partitur zeigt gerade Striche wie in einer Grafik. Darüber sind ein paar Bögen mit einzelnen Noten gezeichnet. Und es gibt den Hinweis „tonlos“. Barbara Bultmann überlegt, wie das klingen könnte. Und wie sie diese Anweisungen auf ihrer Geige überhaupt spielen muss. Mit herkömmlichen Notenbildern haben die Partituren in der Neuen Musik oft wenig zu tun. Wie soll man auf den fünf Notenlinien aufschreiben, dass mit den Violinen nur eine Art Rauschen erzeugt werden soll?

Ensemble Resonanz – Konzertmeister: Schubert-Noten kann man mitsingen

Bultmann, Konzertmeisterin beim Ensemble Resonanz, bereitet sich auf „Double (Grido II)“ vor, ein Werk des Komponisten Helmut Lachenmann. „Es ist ein sehr anspruchsvolles Stück“, sagt sie, „Schubert-Noten kann man mitsingen, bei Lachenmann sieht man oft Erstaunliches und weiß anfangs nicht, wie es klingen soll“.

Aufgeführt wird „Double (Grido II)“ am 6. Februar im Großen Saal der Elbphilharmonie im Rahmen des „Visions“-Festival. Dirigiert wird das für 48 Streicher konzipierte Werk von Bas Wiegers. „Es sieht auf den ersten Blick vielleicht kompliziert aus, aber es sind nur Zeichen“, sagt er, „auch ein cis ist nur ein Zeichen und bedeutet erst mal nichts“. Bei einem Stück wie „Grido“ fungiert der Dirigent auch als Übersetzer zwischen Komponisten und Orchester.

Dirigent Bas Wiegers: Mozart kann er nicht mehr fragen

„Sehr hilfreich ist, dass ich mit dem Komponisten vorher sprechen und er mir seine Klangvorstellungen erläutern kann“, sagt Wiegers. Werke von Lachenmann, einem der renommiertesten Künstler der Neuen Musik, hat Wiegers in der Vergangenheit schon öfter dirigiert und ihn in seinen Domizilen in Stuttgart und am Lago Maggiore getroffen.

„Er hat mich jetzt angerufen, um mit mir über die Hamburger Aufführung zu sprechen. Das hilft enorm“, so Wiegers. „Manchmal wünschte ich, ich konnte auch Mozart anrufen und ihn zum Beispiel fragen: Was meinst Du mit dem Es-Dur in der ,Zauberflöte’? Das geht leider nicht mehr“, sagt er und lacht.

Bultmann: "in der ersten Phase des Übens macht das keinen Spaß"

Wenn die Proben für das Konzert Anfang Februar im Resonanzraum beginnen, erwartet Wiegers, dass jeder der beteiligten Musiker seinen Part genau kennt und vorbereitet hat. „Um so ein Stück spielen zu können, benötige ich etwa zwei Wochen mit bis zu drei Stunden täglich“, sagt Barbara Bultmann.

„In der ersten Phase des Übens macht das gar keinen Spaß“, räumt sie ein. „Man kommt kaum zum Spielen, weil man permanent schauen und überlegen muss. Bei Lachenmanns Stück muss man sich selbst eine Choreografie erarbeiten, denn auch die Bogenhaltung weicht ab. Man darf nicht nachdenken, sondern muss lange üben, um in den richtigen Fluss zu kommen.“

Komplizierte Partituren: Als würde man eine Sprache lernen

Als Hilfestellung für die Arbeit zu Hause gibt es ein paar Videos, in denen der Komponist Musikern der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken seine Vorstellungen erläutert und erklärt, was er etwa mit dem Begriff „flautando“ meint. Dabei halten die Musiker alle vier Saiten ihrer Geige zu und erzeugen beim Streichen ein „gefärbtes Rauschen“.

„Da muss man aufpassen, dass man nicht vom Steg abrutscht. Man braucht eine ruhige Hand“, sagt Bultmann. Vorangestellt sind der Partitur vier Seiten mit Erklärungen, die die Musiker verinnerlichen müssen, um die Noten und grafischen Linien umzusetzen. „Es ist, als würde man eine Sprache lernen“, erklärt Wiegers.

Elbphilharmonie für Lachenmanns Musik "ein toller Saal"

Lachenmann sagt über seine Kompositionen: „Es geht nicht um verrückte Klänge, es geht um ein neues Hören.“ Dieses „frische Hören“ fasziniert auch Wiegers an Neuer Musik. „Es geht im Konzert auch um die Sichtbarmachung der Klänge. Es ist ein Missverständnis, dass Musik auch zu Hause gehört werden kann. Das war nie die Idee von Musik; sie muss live erlebt werden“, sagt der holländische Dirigent.

„Die Elbphilharmonie ist für Lachenmanns Musik ein toller Saal, weil man alles genau hört. Das Publikum spürt die Konzentration der Musiker. Das Publikum muss sich aber auch darauf einlassen, sonst entsteht nichts.“ Barbara Bultmann berichtet von ihren Erfahrungen: „Ich habe ,Grido’ schon im Quartett gespielt. Das ist so ein spannendes und spannungsvolles Stück, bei dem eine irre Energie entsteht. Ich war wie hyperventiliert!“ Für Bultmann ist Helmut Lachenmann formal ein König in Hinblick auf den Aufbau und die Spannungsverläufe seiner Stücke.

Lachenmanns Andersen-Adpation wurde in der Staatsoper aufgeführt

Lachenmann, Jahrgang 1935, ist in Hamburg kein Unbekannter. Sein Werk „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ nach Hans Christian Andersen wurde 1997 an der Staatsoper uraufgeführt und anschließend zur „Oper des Jahres“ gekürt. Bis auf die Premiere waren alle folgenden Vorstellungen ausverkauft, obwohl Lachenmanns Stück alles andere als leicht zugänglich ist.

Auch einige Musiker des Philharmonischen Staatsorchesters murrten damals, als von ihnen verlangt wurde, mit ihren Bogen über die Notenständer zu streichen und so ungewöhnliche Klänge zu erzeugen. Sein Konzept des Raumklangs, von Dirigent Lothar Zagrosek umgesetzt, funktionierte jedoch und machte das Werk zu einem großartigen Klangerlebnis. Auch Bas Wiegers ist überzeugt, dass es jetzt ein guter Abend wird. „Es ist ein besonderes Stück. Viele der Musiker haben schon früher Lachenmann-Werke gespielt. Das Material ist zwar schwierig, aber das sind Mozart-Sonaten auch.“