Hamburg. Annika Büsing hat den Mara-Cassens-Preis erhalten. Laudator: Autor und VfL-Bochum-Fan Goosen, der eine klare Ansage machte.
Da hatte sich eine schöne Ruhrpott-Clique zusammengefunden im Literaturhaus Hamburg am Schwanenwik, jener allein schon äußerlich so kristallklar hanseatischen Angelegenheit. Der Festsaal ist ein Prachtraum, die Marmorsäulen, die Kronleuchter. Aber Annika Büsing, die neue Trägerin des Mara-Cassens-Preises, und ihr Laudator Frank Goosen („Liegen lernen“) hatten ihre vergleichsweise räudige, roughe, jedenfalls weniger glänzende Heimat einfach mitgebracht.
Büsing, Jahrgang 1981, hat den bestdotierten (20.000 Euro!) Debütpreis der Republik für ihren phänomenalen Liebes- und Milieuroman „Nordstadt“ erhalten – da war dessen NRW-Setting als literarischer Export also automatisch mit eingepreist.
Literaturhaus Hamburg: Lobrede von Goosen purer Pott
Und die Laudatio auf Büsing, die in „Nordstadt“ die zart-harte Lovestory von Nene und Boris erzählt, zwei schief gewachsenen Ruhrgebiets-Pflänzlein, die von der Sonne eines Sommers beschienen werden, die Lobrede Goosens war halt auch purer Pott. Der Autor Goosen lebt wie Büsing in Bochum. Außerdem ist er der aktuelle Pate der Ruhrgebietsliteratur. Deshalb bedeutet es etwas, wenn einer wie er sagt: „Annika Büsing ist die Exponentin der neuen Ruhrgebietsliteratur, und deren Zukunft ganz eindeutig weiblich.“
Er muss es wissen. Goosen erinnerte an die Feinheiten des Genres, indem er darauf verwies, dass diese Ruhrgebietsliteratur gerade dann wieder relevant werde, wenn „sie nicht zwangsläufig Ruhrgebietsliteratur sein will“.
Büsings preisgekrönter Roman spielt auch im Schwimmbad
Und er sprach über das Bochumer Stadtbad, wo er einst schwimmen ging. Bevor es zumachte. Im Schwimmbad spielt ja auch Büsings Roman zu einem nicht geringen Teil, weshalb der Rückblick auf einstige Plansch-Freuden absolut opportun war. Der aus dem Westen Deutschlands stammende Hamburger Kultursenator Carsten Brosda (Frank Goosen: „Da fährt man als Bochumer Hunderte Kilometer nach Hamburg, um dann neben einem Gelsenkirchener zu sitzen“) erwähnte in seiner Rede ebenfalls einen Ort seiner Jugend, das Zentralbad – es wurde gerade abgerissen. Sieht so aus, als wäre der soziale Ort „Schwimmbad“ gerade in Nordrhein-Westfalen eine gefährdete Art.
Ihn beschleiche ein beklommenes Gefühl, wenn er heute an der Baulücke vorbeikomme, „von Freiheit ist da nicht viel zu spüren“, sagte Brosda. Der Freiheit, die die seelisch mitunter so beschwerten Protagonisten in Büsings Roman immer dann spüren, wenn sie im Becken sind. Brosda, der in seiner Rede Kafka zitierte (das hat noch keiner Rede geschadet), hat „Nordstadt“ genau und, das war seinen Worten deutlich zu entnehmen, gerne gelesen.
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Er weiß, dass die Helden ins Kino gehen, wenn ihnen der Sinn nach Indoor-Betätigungen steht. „Im Kino sind alle gleich, mit ihren Gefühlen, ihrem emotionalen Gepäck, ihren Sehnsüchten. Filme bieten Zuflucht, so, wie Bücher uns Trost spenden können“, sagte Brosda.
Mara-Cassens-Preis: Rainer Moritz schimpfte über den Trost
Und nahm dabei Bezug auf seinen Vorredner Rainer Moritz. Der ist der Gastgeber im Literaturhaus und richtet zur Saisoneröffnung – genau die ist die Verleihung des Mara-Cassens-Preises – stets durchdachte Worte an das Publikum. Diesmal sprach Moritz über das Trostbedürfnis der Gegenwart und die Angebote, die den Menschen diesbezüglich gemacht werden. Er fand den „Trostfaktor im Kulinarischen“ und zitierte Einschlägiges aus Kochbüchern, was ihm einige Lacher einbrachte. Ganz ernsthaft war sein Mäkeln an der Anspruchshaltung gegenüber der Kunst.
„Mir scheint in dieser Trostzuschreibung an die Kunst eine Gefahr zu liegen. Man begreift Musik oder Literatur zu schnell als bloße Trostspendemaschinen, verkennend, dass Musik oder Literatur, die diesen Namen verdienen, genau das nicht sein können und wollen“ sagte Moritz. Große, bedeutende Literatur habe wenig Tröstendes an sich, so Moritz, „sie wühlt uns auf, lässt uns an allem und jeden zweifeln, verunsichert unsere Anschauung von der Welt und lässt keinen Stein auf dem anderen“.
Carsten Brosda: „Eine exzellente Wahl“
Was, wie erwähnt, der Kultursenator so nicht stehen lassen wollte. Wer das Buch noch nicht gelesen hat, den dürfte die senatorische Deutung der „beiden beschädigten Seelen“, die durch „die sozialen und emotionalen Untiefen der Nordstadt“ navigierten, „immer in Gefahr, auf Grund zu laufen“, sicher Lust gemacht haben, die Lektüre nachzuholen.
„Nordstadt“ als Ballade von Nene und Boris, den an Körper und Geist ramponierten Helden einer ganz kleinen, dichten Geschichte – man könnte noch ausgiebiger schwärmen von einem wirklich guten Debüt (Brosda: „Eine exzellente Wahl“), aber es war dann auch an Annika Büsing selbst, eine Kostprobe ihres Könnens zu geben. Sie las ein Kapitel aus „Nordstadt“ und informierte das darob angefütterte Publikum richtigerweise über ihr zweites Buch – „Koller“ erscheint wie ihr Erstling im Göttinger Steidl-Verlag, und zwar bereits im März.
Es war ein durch und durch launig gehaltener Abend und gerade deshalb, anders ist halt immer erfrischend, die beste Mara-Cassens-Verleihung seit langem. Was eher wenig über die vergangenen Jahre, in denen es gerade in den Laudationes vergeistigter zuging, aber viel über diese 2023er-Ausgabe aussagt. Die Foppereien zwischen Moritz und Brosda (nächster Termin: ihr mittlerweile traditionelles Country-vs.-Schlagerduell am 14. Februar im Literaturhaus) würden mittlerweile fehlen, gäbe es sie nicht.
Frank Goosen bringt frechen HSV-Spruch bei Preisverleihung
Aber es blieb dem neben Annika Büsing zweiten Bochumer Gast Frank Goosen vorbehalten, rhetorisch die ultimative Preisung der Schriftstellerin vorzunehmen. Bemerkenswerte Bücher würden von bemerkenswerten Autorinnen geschrieben, sagte Goosen, und weiter: Meist sei Kunst Geschmacksache, „aber ‘Nordstadt’ nicht, dieses Buch ist objektiv makellos“.
Er könne sich nicht vorstellen, „mit Menschen befreundet zu sein, die dieses Buch nicht mögen“, so Goosen. Klarer Fall von Killersatz, und da raunte dann auch das Publikum. Noch unwissend, dass der freche Ruhrpottler und VfL-Bochum-Fan Goosen direkt noch einen Killerkillersatz nachlegte. Mit Blick auf den Hollywood-Auftragsmörder John Wick aus der gleichnamigen Actionfilm-Reihe rief Goosen abschließend allen Büsing-Ignoranten zu: „Euch hole John Wick oder auf Hamburgisch: Eure Mütter gehen zum HSV!“
Das hat man so unmissverständlich auch noch nicht im Literaturhaus gehört.